Kurzverben (2): Morphologie – Bedeutung in Wörtern organisieren

Wie funktioniert Sprache? Warum sind einige Wörter kürzer als andere? Welche sind das? Ist es nicht unlogisch, dass wir es gibt, aber nicht es musst sagen? Wäre es nicht praktisch, wenn Verbformen logischer wären?

Nehmen wir an, jede Silbe habe eine Bedeutung: do heisst ‚ich‘, ba heisst ‚lesen‘, se bezeichnet die Vergangenheit – dann hiesse do ba-se ‚ich las‘. Nehmen wir weiter an, hi stehe für ‚Präsens‘: do ba-hi ‚ich lese‘. Nehmen wir ausserdem an, ka bedeute ‚angeln‘ – do ka-se hiesse ‚ich angle‘.

Nun klingt aber do ka-se recht ähnlich wie do ba-se – und wenn man bedenkt, dass es ein paar Tausend Verben gibt und etwa hundert Silben, die sich klar unterscheiden, müssten morphologisch gesehen Massnahmen ergriffen werden. Wir könnten:

  • Wörter länger machen: ‚lesen‘ wird baro, ‚angeln‘ kana – schon viel besser zu unterscheiden. Allerdings auch länger: do baro-hi ‚ich lese‘
  • mehr Laute schaffen: von ka mit hellem /a/ ‚angeln‘ unterscheiden wir mit dunklem /ɑ/ ‚bellen‘. Wir erweitern die Vokale von 5 auf 10, die Konsonanten von 20 auf 40 – gibt 400 statt 100 verschiedene Silben. Zusätzlich können wir noch Töne einführen (wie im Chinesischen), damit erreichen wir nochmals eine Multiplikation um das Fünffache. 2000 Verben ist aber immer noch knapp, wir werden also zusätzlich mit Zusammensetzungen arbeiten müssen. Die Formen unterscheiden sich weniger stark.
  • ein Regime einführen, das Häufigkeit berücksichtigt: Was am meisten benutzt wird, muss nicht noch extra gesagt werden oder nur möglichst kurz. Das Verb lesen wird häufiger gebraucht als angeln. Also machen wir doch angeln länger, lesen aber nicht. Das Präsens markieren wir nicht, weil es am häufigsten ist. Damit ist ‚ich lese‘ noch do ba, ‚ich angle‘ do kana, ‚ich las‘ do ba-se. Scheint vernünftig.

Aus dem Gedankenspiel wird ersichtlich: Schon ohne Formen für den Irrealis (ich würde lesen), für die Zukunft (ich werden lesen) und für die indirekte Rede (er sagte, er lese) wird es kompliziert. Es kann nicht alles kurz sein. Wie also die Wörter ordnen, damit die Sprache logisch, aber auch effizient ist? Denn wenn wir statt es ist immer sagen müssten hado-hi-ke-sa, wäre das etwas ineffizient – wenn ist nur durch ho ausgedrückt würde (oder durch ist), fällt es aber aus dem System.

Damit sind wir mitten in der Morphologie, dem Studium der Morpheme. Morpheme sind die „kleinsten bedeutungstragenden Einheiten“. (Sie) mach-t besteht zum Beispiel aus 2 Morphemen: mach- ‚tun‘ und -t ‚3. Person Singular‘. (Ihr) mach-te-t besteht aus 3 Morphemen: -te- steht für ‚Vergangenheit‘, -t für ‚2. Person Plural‘.

Morphologietheorie

Nun sind wir aber im Normalfall nicht in der Lage, die Sprache selbst zu bauen – sie ist bereits da. Die oben angesprochenen Kräfte dürften bei der Organisation des morphologischen Systems trotzdem eine Rolle spielen und die Sprache fortwährend formen, allerdings nicht sprunghaft – aus ich wird nicht ho, aus lesen nicht ba – aber aus habet wurde hat.

Es gibt verschiedene Ansätze, die erklären wollen, warum morphologische Systeme verschiedener Sprachen unterschiedlich aussehen (man denke an italienische Verben: parl-o, parl-i, parl-a, … – dagegen englisch I speak, you speak, he/she speak-s, …). Oft steht dabei die Idee eines Ideals im Zentrum:

  • Ideal ist, wenn es möglichst logisch ist. Jeder Bedeutung entspricht ein Morphem (wie in do ba-se ‚ich las‘). Man könnte dieses Ideal auch „Prinzip der Sprache als Baukastensystem“ nennen. In diese Richtung denkt die Natürlichkeitstheorie. Wenn jede Bedeutung ein Morphem hat, haben wir aber im Deutschen z.B. ein Problem mit kann: wo ist da das -t der 3. Person?
  • Ideal ist, wenn es so kurz wie nur möglich, aber gerade noch verständlich ist. Kommunikationstheorien gehen von der Überlegung aus, dass alles immer gekürzt wird, bis das Optimum erreicht ist, wo weitere Kürzung zu einem steilen Anstieg von Missverständnissen führt. Die Frage ist dann: Wo ist das Optimum?
  • Ideal ist, wenn möglichst viele Bedürfnisse in Balance sind: Theorien wie die Ökonomietheorie setzen nicht bei der Kommunikation an, sondern machen eine Auslegeordnung von Kräften und Bedürfnissen. Ziel der Morphologie ist nach dieser Sicht ein möglichst guter Kompromiss zwischen verschiedenen Bedürfnissen und Kräften.

Die Balance – aber welche?

Diese Bedürfnisse sind, wie wir gesehen haben, widersprüchlich: Alles soll möglichst kurz sein, aber trotzdem klar; Häufiges gerne kürzer als Seltenes; und es soll sich möglichst logisch zu einem System fügen. Auch die Bedürfnisse von Sprecher(in) und Hörer(in) sind verschieden: Beim Sprechen will man mit wenig Aufwand viel vermitteln (spricht für Kürze), beim Empfänger soll aber die Information klar ankommen (spricht gegen Kürze). Solche Dilemmata gibt es noch weitere.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen scheint der Ansatz der Ökonomietheorie sinnig – Aber wie der angestrebte Kompromiss aussieht, ist damit nicht gesagt. Oder pointierter: Das Prinzip „ein bisschen Chaos am richtigen Ort ist auch Ordnung“ ist an Schwammigkeit schwer zu überbieten. Und es erklärt auch nicht, warum verschiedene Sprachen so verschiedene Balance-Systeme aufweisen. Aber mit dem Stichwort Balance scheinen wir auf dem richtigen Pfad zu sein.

Statt „Balance“ kann man wie Andreas Lötscher (2010: 115) auch von „Kampffeld“ sprechen (und damit die Tradition der Kriegsmetaphern in der Dialektologie weiterführen):

Morphologie ist ein Kampffeld, in dem – wie im häuslichen Alltag – dauernd Auseinandersetzungen zwischen Bequemlichkeit und Ordnung stattfinden.

Viele Theorien gewichten im Grunde genommen einfach die Bedürfnisse und Kräfte verschieden: Manche stellen Analogie ins Zentrum, manche die Bedürfnisse des Sprechers oder Hörers in der Kommunikation, andere das Gehirn. Theorien, die vom Gehirn ausgehen, lassen sich gut mit Frequenz verbinden, da neuronale Verbindungen durch Wiederholung gestärkt werden.

Die Auseinandersetzung um die richtige Sichtweise wird engagiert geführt, zuweilen auch mit dem Zweihänder (Otmar Werner 1987a: 603):

I think it is a mere «slip of the mind» of Natural morphologists, that they do not come to this conclusion.

Frequenz und Irregularisierung

Schon oben habe ich angetönt, dass die Bedürfnisse bei verschiedenen Wörtern anders gelagert sind: so ist das Verb angeln viel seltener als haben. Ein grosser Einfluss auf die richtigen Kompromisse hat also Frequenz: Was oft vorkommt, soll kürzer sein, auch wenn der Preis dafür ist, dass es nicht ganz regelmässig ist. So ist z.B. kann (zu können) nicht regelmässig gebildet wie angel-t (zu angel-n).

Hier kommt Damaris Nüblings Idee der Irregularisierung ins Spiel. Zu Grunde liegt die Beobachtung, dass Morpheme mit hoher Frequenz vermehrt eigene morphologische Wege gehen. Häufiges Vorkommen begünstigt (1) „Abnutzung“ (er habet > *er habter hat) oder sogar (2) „absichtliche“ Irregularisierung, bei der die Unregelmässigkeiten ähnlicher Verben übernommen werden (darunter fällt z.B. der Sprung beim schweizerdeutschen Konjunktiv I: sie göngsie gös ’sie gehe‘ analog zu sie lös ’sie lasse‘).

tl;dr

tl;dr steht für „too long; didn’t read“. Da ich weiss, dass ein längerer Beitrag einige Konzentration erfordert, aber auch nicht allzu viel auslassen möchte, erlaube ich mir in dieser Reihe einen gewissen ausschweifenden Gestus und schnüre dafür zum Abschluss jeweils ein Päcken zum Mitnehmen.

Hier also die angesprochenen Punkte im Schnelldurchlauf:

  • Morphologie ist das Studium der Morpheme. Wortformen setzen sich oft aus mehreren Morphemen zusammen (sie mach-te-n).
  • Bei der Organisation der Morphologie kommen verschiedene Gesichtspunkte ins Spiel: Klarheit, Kürze, aber auch Frequenz – also wie oft ein Wort oder eine Form vorkommt. (Siehe dazu auch Teil 3)
  • Sprachen setzen die morphologischen Möglichkeiten verschieden ein (parl-o vs. speak). Anscheinend gibt es verschiedene Möglichkeiten, widersprüchliche Anforderungen in Balance zu bringen. Ein grosser Unterschied von Theorien zur morphologischen Organisation und Entwicklung ist, dass sie die Anforderungen unterschiedlich gewichten.
  • Irregularisierung: Es ist zu beobachten, dass frequente (häufige) Wörter oft eigene Wege gehen; z.B. ist haben (sie hat) viel „anfälliger“ für Kürzungen als laben (sie labt). Dies bezeichnet Nübling als Irregularisierung.

Soviel zur Theorie. In den kommenden Artikeln wird Abstraktes an konkreten Beispielen nachvollziehbarer.

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