Kurzverben (3): Frequenz – Was sagen wir häufig?

Im 2. Teil war bereits die Rede von Frequenz: Was wir häufig sagen, wird gern kürzer ausgedrückt. Aber was sagen wir häufig?

Wenn wir nicht nur Mutmassungen anstellen wollen, sondern fundierte Aussagen über Häufigkeiten, sind wir auf Korpora angewiesen. Korpora sind Zusammenstellungen von Texten (wobei auch z.B. Tonaufnahmen „Texte“ sind), die möglichst repräsentativ sein sollten für die Art von Sprache, die man beschreiben will. Aufgrund von Gesetzestexten lassen sich z.B. nur schlecht Rückschlüsse auf Alltagssprache ziehen. Der Fokus hier ist Alltagssprache bzw. gesprochene Sprache.

Für meine Masterarbeit habe ich das sms4science-Korpus und das „Häufigkeitswörterbuch gesprochener Sprache“ von Arno Ruoff (1981) verwendet. Hier werde ich zusätzlich ein (begrenzt belastbares) Korpus einfliessen lassen, das auf einem Whatsapp-Chat mit zehn TeilnehmerInnen basiert, in dem v.a. Pläne und Verabredungen verhandelt werden.

Analysen sind immer nur so gut wie die Daten. Die Analyse des Verabredungs-Chats erfolgte aus persönlich-linguistischem Interesse. Das Korpus umfasst ca. 4500 Verbformen, womit es begrenzt aussagekräftig ist (sms4science: 45’000; Ruoff: ca. 100’000). Thematisch ist ein Überhang von Verarbredungen vertreten, was u.a. häufigen Gebrauch z.B. der 1. Person (ich kann nichtwir kommen auch etc.) oder des Konjunktivs II (wer hätte Lust?) zur Folge hat.

Frequenz hat verschiedene Dimensionen. Einerseits kann sie lexikalisch verstanden werden (nach lexikalischen Tokens, also Verben): Ist rumgurken oder fahren häufiger? Andererseits kann sie kategoriell aufgeschlüsselt werden: Welche Personen (1./2./3.) und Numeri (Singular (Sg.)/Plural (Pl.)) sind wie häufig? Und welche Tempora, Modi bzw. finiten Formen (lachen vs. lacht vs. lachte vs. gelacht)?

Lexikalische Frequenz

Häufigstes Verb ist in allen drei Korpora sein, danach kommt haben. Dahinter ist die Reihenfolge nicht mehr deckungsgleich; unter den häufigsten zehn Verben sind aber überall gehen, kommen, können, müssen, machen und werden, unter die ersten 25 Ränge kommen jeweils wollen, sagen, wissen, geben, sehen – also Verben mit breiter Bedeutung, ausserdem drei Modalverben (können, müssen, wollen).

Rang Anteil Verben
1 24 % sein
2 20 % haben
3-4 4 % kommen, gehen
5-9 3 % können, müssen, machen, werden
10 2 % sagen
10-15 1 % wollen, wissen, geben, tun
16-25 0.5 % schaffen, sehen, fahren, nehmen, sollenstehen, heissen, denken, lassen
Tabelle: häufige Verben. Gerundet. An Ruoff (1981) orientiert (Gewichtung ⅔) und mit den zwei anderen Korpora angereichert. Weggelassen sind Korpuskontext-spezifische Verben (finden, wünschen, reservieren, …) und dialektspezifische (kriegen, lugen).

Warum sind nun gerade diese Verben häufig? – Hier ist viel Raum für Interpretation. Dass im Verabredungs-Chat reservieren recht häufig ist (Rang 15), lässt sich mit dem Zweck des Chats erklären, aber auch können ist dort auffällig häufig. Ich würde als These vorschlagen, dass oft Ausdrücke wie ich kann da nicht verwendet werden – wollte man es genau wissen, müsste man aber noch tiefer eintauchen.

Neben der breiten Bedeutung (gehen umfasst fahren, laufen, fliegen, …) spielt der „grammatische Bedeutungsanteil“ eine Rolle. Die Verben werden oft für Konstruktionenen gebraucht, die den Umstand einer Handlung beschreiben: Möglichkeit (ich kann), Wunsch (sie will), bereits geschehen (er hat gemacht), Passiv (es wird gemacht).

Kategorielle Frequenz

Schaut man sich Häufigkeiten nach grammatischen Kategorien an, lassen sich ebenfalls Trands ausmachen:

Person und Numerus: Im Verabredungs-Chat sind 1. Sg. und 3. Sg. etwa gleichauf mit je ca. 40 %, ähnlich sieht es bei Tomczyk-Popińska (1987) aus, wo die „dialogische deutsche Standardsprache“ untersucht wurde (zit. nach Nübling 2000: 272).

Person und Numerus: Anteile

Grafik 1: Anteile bei Person und Numerus

Die 1. Person ist im Verabredungs-Chat also sowohl im Singular als auch im Plural häufiger als bei der Untersuchung von Tomczyk-Popińska – sinnigerweise, denn beim Verabreden spricht man oft über die eigenen Pläne. Die 3. Pl. ist hingegen bei Tomczyk-Popińska viel häufiger, wohl deswegen, weil im Verabredungs-Chat alle per du sind, womit sich Höflichkeitsformen erübrigen (Können Sie…?). All dies unterstricht die Bedeutung des Kontexts, der untersucht wird. Von diesen Unterschieden abgesehen sind die Verhältnisse vergleichbar: Die grosse Mehrheit aller Äusserungen entfallen auf die 3. Sg. und die 1. Sg.

Modus: Anteile

Grafik 2: Anteile bei den Modi

Modus: Die Untersuchung des Verabredungs-Chats zeigt, dass der Indikativ („Realitätsform“: ich stehe) bei weitem überwiegt. Der Konjunktiv II (ich stünde) ist etwas stärker vertreten als bei Tomczyk-Popińska. Dies kann auf die schriftliche Kommunikation zurückzuführen sein, auf andere Konventionen im Schweizerdeutsch, das eher als „nett“ bzw. „verschnörkelt“ gilt (wir könnten ja vielleicht vs. wollen wir?) oder wieder auf den Kontext (Verabredungen haben ja einen inhärent konditionalen Anteil, da man Möglichkeiten bespricht). Imperativ (steh! steht!) und Konjunktiv I (dass sie stehe) machen zusammen weniger als 1 % aus, insbesondere der Konjunktiv I ist sehr selten (unter 0.1 %).

Tempus (Vergangenheit/Präsens/Futur) habe ich nicht im Detail ausgezählt. Bei Tomczyk-Popińska macht das Präsens etwa ¾ aus. Nach den Anhaltspunkten zu urteilen überwiegt das Präsens im Verabredungs-Chat noch stärker, was aber nicht viel aussagt, da es kein Ort der langen Geschichten ist. Da das Schweizerdeutsche kein Präteritum mehr kennt (sie lachte), wird immer das Perfekt benutzt (sie hat gelacht), was die Hilfsverben haben und sein (ich bin gegangen) noch häufiger macht.

häufiger ~ kürzer

Kommen wir zur Vorhersage zurück: Wenn etwas häufiger ist, wird es tendenziell kürzer ausgedrückt. Sind also die oben ausgemachten häufigen Verben und grammatischen Kategorien kürzer codiert?

  • Lexikon: Die Verben, die in der Häufigkeitsrangliste weit oben stehen, sind oft irregulär, weil sie in einigen Formen gekürzt sind, ganz eindeutig bei sein und haben (z.B. umgangssprachlich wir ham), aber gerade auch bei den Kurzverben im Schweizerdeutschen: mir göö/gönd ‚wir gehen‘, mir wöö/wei/wänd ‚wir wollen‘.
  • Person/Numerus: Die häufige 3. Sg. setzt sich oft ab, man vergleiche z.B. sie hat (1 Silbe) mit ich habe (2 Silben), auf Schweizerdeutsch er seit ‚er sagt‘ ohne -g-, sie findt ’sie findet‘ mit ausgestossenem -e- oder es git ‚es gibt‘ ohne -b-.
  • Modus: Zweisilbige Konjunktive stehen oft einsilbigen Indikativen gegenüber, z.B. du goosch (Indikativ, einsilbig) – du gösisch (Konj. I, zweisilbig) – du gengt(i)sch (Konj. II, ebenfalls zweisilbig). Gleiche Länge weisen insbesondere häufige Verben auf: sie gootsie gengsie gieng. Umgekehrte Fälle, Konjunktiv kürzer als Indikativ, sind mir nicht bekannt.

Es gibt also klare Hinweise, dass Häufigkeit mit Kürze einhergeht. Allerdings ist der Zusammenhang nicht zwingend, sondern es handelt sich um eine Tendenz. Jede Form ist in einem komplexen mehrdimensionalen Netz verortet (Lexem, Person, Modus, Tempus, Person und Numerus) und es können noch weitere Gesichtspunkte hineinspielen wie z.B. Vermeidung von Formzusammenfall. Ausserdem ist noch zu vermerken, dass Häufigkeit oft nicht einfach mit Kürze im Sinne von „weniger Lauten“ einhergeht, sondern auch mit Unregelmässigkeiten, die (ebenfalls tendenziell) leichter auszusprechen sind.

In der Forschung wird der genaue Zusammenhang von Häufigkeit und Kürze intensiv diskutiert: Nübling (2000: 260) ist geradezu euphorisch; für sie ist Frequenz „die wichtigste Determinante für die Organisation sprachlicher Strukturen und deren Wandel“. Fenk-Oczlon (1991: 390) bezeichnet hohe Frequenz als „ausgezeichnete[n] Prädikator für kürzere Codierung“, Bybee (2007: 17) betont grundsätzlich auch den Einfluss von Frequenz, äussert sich aber weniger entschiden.

Interessanterweise haben wir eine Vorstellung davon, welche Verben häufig sind, obwohl Frequenz eher abstrakt ist. Wir wissen demnach, dass ein Verb wie kommen häufiger ist als geben, auch wenn wir das nie explizit gelernt haben (vgl. Fenk-Oczlon 1991: 365f.). Die Wirkung von Frequenz auf morphologische Organisation ist also nicht nur ein Hirngespinst einiger Linguistinnen, sondern etwas, das sich ganz real zeigt.

tl;dr

Häufige Formen sind tendenziell kürzer:

  • häufiges Verb: sein, ist, wäre – seltenes: springen, springt, würde springen
  • Person und Numerus: 3. Sg. lädt – 1. Pl. laden
  • Modus: Ind. du stehst – Konj. II du stündest

Häufigkeit (bzw. Frequenz) hängt in verschiedener Hinsicht mit Kürze zusammen. Man unterscheidet lexikalische (sein vs. springen) und kategorielle Frequenz (lädt vs. laden, stehst vs. stündest etc.).

sich auf den Mund schauen

Frequenz-Phänomene kann man auch bei GesprächspartnerInnen oder bei sich selbst beobachten: In gesprochener Sprache verschleifen wir gern häufig Gesagtes, z.B. sie is (aber nicht er vermiss), wir ham (aber wir laben) oder kürzen es ab – es grüsst freundlich mfG. In diesem Blog wurden auch schon die Partikeln wück, eich und irwie besprochen, die gerne „vermueslet“ werden, sowie einsilbiges ägscht, das auf ekkhorôdo (4 Silben!) zurückgeht.

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