Kurzverben (8): Der Konjunktiv II – „ich nämti da wenn’s giengt“

Der Konjunktiv II („Konditional“) ist der grosse Bruder des Konjunktivs I (Teil 7). Er drückt Hypothetisches, Irreales, Bedingtes aus:

Dene wo’s guet geit
gieng’s besser
gieng’s dene besser
wo’s weniger guet geit

(Mani Matter: Dene wos guet geit)

Es chunnt mr eifach komisch vor, das ganze drumm u dra
mängisch liess i schampar gärn aues la schtah u fieng vo vorne a

(ZüriWest: Züri West)

Jitz bisch du cho, grad jitz, won i’s nümm hätti dänkt
u luegsch dry, wie wenn’s öppis Schöns z gwinne gäb

(Patent Ochsner: Scharlachrot)

Der Stamm dieser Formen ist wie im Standarddeutschen gebildet: Der Konj. II wird dort vom Präteritum gebildet, z.B. ich liesse zum Prät. ich liess – wenn möglich mit Umlaut, z.B. es gäbe zum Prät. es gab.

Im Schweizerdeutschen ist das Präteritum verloren gegangen. Dadurch wurde der Präteritumstamm, der für den Konj. II „recycelt“ wurde, zum „Konjunktiv-II-Stamm“. Der Konjunktiv II ist also von anderen Formen (Präteritum; Indikativ, Konjunktiv I) besser abgesetzt als im Standarddeutschen – liess- steht immer für Konjunktiv II, es gibt nicht zwei davon abgeleitete Formenreihen wie im Standarddeutschen ich liess (Prät.) und ich liesse (Konj. II).

analogische Formen

Nun gibt es aber auch Konjunktiv-II-Formen wie die folgende im Schweizerdeutschen:

Du bruchsch nid z rüefe we mir üs irgendwo begägne
Tue eifach so aus gieb’s mi nümm

(ZüriWest in der Dylan-Adaption Mir wei nid grüble (es isch scho rächt))

Hier ist offensichtlich Analogie im Spiel. Die Vokale ä, ie und u können auch Konjunktive II bilden von Verben, welche nie ein derartiges Präteritum hatten – das Präteritum heisst schliesslich nicht es gieb, sondern es gab.

Dass solche analogischen Bildungen möglich sind, hat auch damit zu tun, dass der Konjunktiv II sich nicht mehr einen Stamm mit dem Präteritum teilt. Wenn der Stamm nicht mit anderen Formen im Zusammenhang steht, sind die Auswirkungen weniger weitreichend, wenn man ihn verändert. Man könnte auch sagen, das Präteritum „stützt“ den Konjunktiv II im Standarddeutschen zu einem gewissen Grad.

Im Schweizerdeutschen sind also durch das fehlen des Präteritums die Vokale des Konjunktivs II weniger fixiert. Der Konjunktiv II ist nicht mehr „gebildet wie Präteritum, aber mit Umlaut“, sondern „die Form mit dem seltsamen Vokal“ – wird dieses Prinzip noch etwas weiter getrieben, bedeutet das: Ein „schräger“, auffälliger Vokal qualifiziert eine Form als Konjunktiv II. In der Berndeutsch-Grammatik (Werner Marti 1985) finden sich z.B. diese Formenvon Kurzverben:

  • ich gäb, gub, gieb ‚ich gäbe‘
  • sie nähm, num, niem ’sie nähme‘
  • er gsähch, gsuhch, gsiech ‚er sähe‘

Dies betrifft nicht nur Kurzverben, sondern auch andere starke Verben, z.B. sie bliib ’sie bliebe‘, er hulf ‚er hülfe‘ (stark werden Verben genannt, die das Präteritum mit Vokalwechsel bilden: wir singenwir sangen)

Mischung von schwacher und starker Bildung

Dr Glünggi het zum Löu gseit, är syg e blöde Siech
und dä isch sofort zum Sürmu, was jo o nid jede miech

(Mani Matter: E Löu, e blöde Siech, e Glünggi un e Sürmu)

Ablaut bei schwachen Verben: Die Anreicherung der Konj.-II-Formen mit anderen als den ursprünglichen Vokalen stoppt nicht bei den starken Verben. Wie er miech ‚er würde machen‘ zeigt, sind auch schwache Verben davon betroffen (schwach werden Verben genannt, die das Präteritum nicht mit Vokalwechsel bilden (geben, gab, gäbe), sondern mit -t-: machen, machte).

Solche analogische Vokalwechsel bei schwachen Verben kommen v.a. bei machen vor, weniger verbreitet bei kaufen (ich chief, chuuf, chüf), fragen (ich frieg, frueg) und sagen (ich sieg, seiti). Das legt nahe, dass Frequenz ausschlaggebend ist: machen und sagen gehören zu den häufigsten Verben (vgl. Teil 3), und auch fragen und kaufen sind nicht ganz selten.

Schwache Endungen bei starken Verben: Die Grenze zwischen starken und schwachen Verben wurde aber auch in die andere Richtung durchlässig: An starke Verben (zu denen auch die Kurzverben gehören) kann zusätzlich zum Ablaut ein -ti angehängt werden, eigentlich die Endung der schwachen Verben (ich machti ‚ich würde machen‘). In Anlehnung an die Modalverben kann das -i auch weggelassen werden (ich chönnt ‚ich könnte‘). Zum Beispiel:

  • ich gsäch/gsächt(i), gsiech/gsiecht(i) ‚ich sähe‘
  • er nähm/nähmt(i), nuhm/nuhmt(i) ‚er nähme‘
  • sie chiem/chiemt(i), chäm/chämt(i) ’sie käme‘

Berührungspunkte Konjunktiv I/II

Auch Formen nur mit -i sind je nach Verb und Dialekt möglich, z.B. er schliegi ‚er schlüge‘. Dies ist eigentlich die Endung des Konj. I (vgl. Teil 7). Konj. I und II weisen weitere Überschneidungen auf:

  • Im Kanton Bern ist die Form er nähm(i) vom Konj. II in den Konj. I gerutscht.
  • Der vom Konj. I bekannte Auslautkonsonant-Tausch ist auch im Konj. II teilweise möglich: er schlieg/schlieng.
  • Die Modalverben können im Konj. II auch Entrundungen aufweisen: er chöönt/cheent.

Tadaa: Der Konjunktiv-II-Baukasten

Wir basteln uns also einen Konjunktiv II aus

  • Vokalwechseln, wobei beim Austauschen der Vokale ein bisschen Kreativität nicht schaden kann: er nuum ‚er nähme‘, ich gieb/gäbti/guub ‚ich gäbe‘, du gsächtisch/gsiechtsch ‚du sähest‘
  • einer Palette von Endungen: -t, -ti, -i oder keine

Wir dürfen uns auch beim Konj. I umschauen – Wie wär’s z.B. mit einem Konsonantentausch? Ich stieng ‚ich stünde‘ ist doch viel schmucker als ich stiend.

Damit haben wir einen hübsch gefüllten Konjunktiv-II-Baukasten zusammen. Der Sinn der Übung ist wie schon beim Konjunktiv I, dass sich das Resultat abhebt – Der Konj. II soll klar als solcher erkennbar sein. Und eine Form, die etwas nicht Reales bezeichnet, darf auch etwas gedrechselt daherkommen: Chiemted ihr mit, we mir is Kino giechted? ‚Kämt ihr mit, wenn wir ins Kino giengen?‘

Diese Mechanismen betreffen zwar auch die Kurzverben, sind jedoch nicht Kurzverb-spezifisch: Auch andere starke Verben und sogar schwache Verben bilden Konjunktive II mit „schrägen“ Vokalwechseln. Ausschlaggebend ist also nicht die Zugehörigkeit zu einer morphologischen Gruppe, sondern eine andere Eigenschaft: hohe Frequenz (vgl. Teil 3). Diese trifft auf die meisten Kurzverben zu, aber auch auf häufige schwache Verben wie machen und häufige starke Verben wie bleiben.

Umschreibung

Auch möglich ist die Bildung eines analytischen Konjunktivs II:

Ich gieng gern id FerieIch wür/tät gern id Ferie goo

Dies nur der Vollständigkeit halber – synthetische Konjunktive (in einem Wort) geben definitiv mehr her. Die umschreibende Konstruktion ist v.a. bei wenig benutzten Verben recht häufig (ich wär kommt eher über die Lippen als ich würdi sii – hingegen ist ich organisierti eher schwerfällig, ein Fall für ich wür organisiere).

tl;dr

Der Konjunktiv II bezeichnet Irreales: I liess aues la schtah u fieng vo vorne a – wenn ich denn könnte.

Das Schweizerdeutsche hat das Präteritum (ich liess) unter den Tisch fallen lassen. Das nimmt dem Konjunktiv II seine Stütze, wodurch der Weg frei ist für abenteuerliche Vokalwechsel: ich niem, aber auch ich nuhm oder nähm.

Zusätzlich wird die Grenze zwischen starker und schwacher Bildung verwischt und die Endung -t(i) der schwachen Verben auch an die starken angehängt: Ich nähmt(i) gern no en Kafi. Schwache Verben bilden dafür Ablaute aus: Er miech’s scho, wenn er Ziit hett. Dieser Umbau ist allerdings nur bei häufigen schwachen Verben möglich – es grüsst die Frequenz (vgl. Teil 3).

Das System zum Ausdruck des Konjunktiv II wurde also in mehr als einer Hinsicht auseinandergenommen und neu zusammengesetzt. Oberstes Kriterium scheint dabei Abgrenzung der verschiedenen Kategorien zu sein: Der Konjunktiv II soll sich vom Konjunktiv I und vom Indikativ unterscheiden. Um diesem Prinzip gerecht zu werden, wird an der Morphologie herumgeschraubt und -gerüttelt, dass es tätscht. Den Dialektologen freut’s – zeigt sich doch an solchen Fällen exemplarisch, wie dynamisch Sprachwandel verlaufen kann, er aber gleichzeitig doch um bekannte Muster (Rückgriff auf immer dieselben Vokale) und Prinzipien (Frequenz) kreist.

sich auf den Mund schauen

Die Liste der Kurzverben ist in Teil 4 zu finden – wie würden die Konjunktive II dazu lauten?

Anregend kann es auch sein, eine aktuelle oder weniger aktuelle Dialekt-Grammatik zu Hand zu nehmen, Konjunktiv II nachzuschlagen und zu schauen, was dort so steht – sie lieff ’sie liefe‘, würde ich so etwas wirklich sagen?

4 Comments

  1. Pingback: «Pluräl» – schweizerdeutsche Pluralbildung mit analogischem Umlaut | Radices

  2. Stephan

    Hej, super. I ha mi scho mängisch gfragt, wohär ächt die nähm-niehm-nuhm+(ti) u gääng-gieng-giech-guuch etc. Forme chöme. Wenn man die Erklärungen dann so schön auf dem Tablett serviert kriegt, wird plötzlich vieles logisch auch wenn’s nicht immer logisch ist. Besten Dank, das Lesen hat Spass gemacht.

    Mit bestem Gruss
    Stephan

    • Kim

      Danke ebenfalls! Freut mich sehr, wenn ich zu Erhellung und Unterhaltung beitragen kann 🙂

  3. schwarz, claudia - basadingen TG

    vor 30 jahren habe ich von meinem schulpflegeprsi folgende KII gehört:
    ich flippte fast aus. er sagte: ich gsooch (ich würde sehen).
    er stammt glaub aus dem AG.

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