Kurzverben (9): Verbverdopplung – „gömmer go luege“

Gömmer go poschte? (‚Gehen wir einkaufen?‘) – Das go fällt einem als Schweizer gar nicht besonders auf, es gehört einfach da hin. Stellt man den Satz dem Standarddeutschen gegenüber, fällt go aber sofort ins Auge. Was hat es damit auf sich?

Es gibt verschiedene Fälle, in denen im Schweizerdeutschen ein go (bzw. ga in anderen Dialekten) oder cho steht. Einerseits nach gehen und kommen (Beispiele z.T. aus dem Verabredungs-Chat (vgl. Teil 3) adaptiert):

Es hät glüte, gosch du go luege?
‚Es hat geklingelt, gehst du _ schauen?‘

Ich chume denn spöter mol cho hallo sege.
‚Ich komme dann später mal _ hallo sagen.’

Aber auch nach anderen Verben der Bewegung erscheinen go und cho – wobei in diesem Fall im Standarddeutschen auch etwas steht:

Sie fahrt an Bahnhof go ihn abhole.
‚Sie fährt zum Bahnhof, um ihn abzuholen („ihn abholen gehen“).’

Andererseits stehen go/cho nach Modalverben. Dies funktioniert im Standarddeutschen fast gleich:

Oder wönd ihr eifach no cho esse?‘
‚Oder wollt ihr einfach noch essen kommen?’

In diesem Fall muss go/cho nicht obligatorisch stehen, sondern drückt eine Bewegung aus:

Mir wänd hüt obig _ brötle.
‚Wir wollen heute Abend _ grillen.‘ (z.B. bei uns auf dem Balkon)

Mir wänd hüt obig go brötle.
‚Wir wollen heute Abend grillen gehen.‘ (z.B. am Fluss)

Varianten: go, cho, goge, choge

Wann steht nun go und wann cho? Da gibt es viel Spielraum, wie folgendes Beispiel aus dem Chat zeigt:

Aso cho uswärtsesse chämted mir dasmol nid, aber mir chämted denn eis go trinke.
‚Also _ auswärts essen kommen wir dieses Mal nicht, aber wir kämen dann eins _ trinken.‘

Wir kämen wird einmal mit cho, einmal mit go kombiniert. Es geht also nicht nur goo go und choo cho, sondern auch choo go, die „überkreuzte Verbverdopplung“. Andersherum (goo cho) ist sehr ungewöhnlich. Allgemein ist go als „Verdopplung“ viel häufiger als cho. Eine weitere, noch seltenere Variante ist die „doppelte Verbverdopplung“:

Mir gönd denn no goge renne.
‚Wir gehen dann noch _ rennen.

Und schliesslich gibt es auch noch die Kombination aus verdoppelter und überkreuzter Verdopplung:

Chunsch au choge renne?
‚Kommst du auch _ rennen?‘

Die Verwendung von go oder cho drückt tendenziell eine gedachte Richtung bzw. eine Perspektive aus: du chunsch zu mir cho esse ‚du kommst zu mir zum Essen‘, ich chum zu dir go esse ‚ich komme zu dir zum Essen‘. Präferenzen bzw. Wahrnehmungen, welche Form angebracht ist, unterscheiden sich aber von Person zu Person. Einige machen es wie eben gezeigt von der Perspektive abhängig, ob sie go oder cho nach kommen setzen, andere tendieren generell zu cho oder generell zu go.

Entstehung: reduzierter Infinitiv trifft auf Präposition

Bei diesen Konstruktionen gibt es ein paar „Ungereimtheiten“ bzw. Unparalleles:

  • Warum ist ich chum go akzeptiert, ich gang cho aber eher nicht?
  • Handelt es sich überhaupt um eine Verbverdopplung, wenn cho mit go „verdoppelt“ werden kann, ebenso fahren?
  • Warum hat (obligatorisches) go/cho nach Verben der Bewegung keine standarddeutsche Entsprechung, während (fakultatives) go/cho nach Modalverben einem standarddeutschen Infinitiv entspricht? Handelt es sich um zwei Konstruktionen oder um die gleiche?

Um diese Fragen zu beantworten, muss man etwas ausholen. Der Grundgedanke ist, dass es sich um verschiedene Teilprozesse handelt, die eigentlich nacheinander ablaufen, aber manchmal auch ineinandergreifen – während im einen Dialekt ein Teilprozess bereits abgeschlossen ist und der nächste beginnt, ist in einem anderen noch der erste am Laufen.

Diese Teilprozesse sind Umdeutungen einer Konstruktion, sogenannte Reanalysen, gefolgt von einer Ausweitung des Geltungsbereichs der neuen Deutung. Die Gesamtheit der Prozesse wird als Grammatikalisierung bezeichnet. Dies wegen dem Umstand, dass grob gesagt ein Wort mit lexikalischer Bedeutung (wie z.B. gehen, die Tätigkeit der Fortbewegung) an direkter lexikalischer Bedeutung verliert und an grammatischer Bedeutung gewinnt (go in ich gang go poschte heisst nicht mehr ‚gehen‘, sondern trägt mehr zur Grammatik bei.
Die folgende Darstellung basiert auf einem Aufsatz von Andreas Lötscher aus dem Jahr 1993, wo die Vorgänge im Detail nachgelesen werden können: Zur Genese der Verbverdopplung bei gaa, choo, laa, aafaa („gehen“, „kommen“, „lassen“, „anfangen“) im Schweizerdeutschen. In: Abraham, Werner und Bayer, Josef (Hg.): Dialektsyntax. Seiten 180–200.
  1. Reduzierter Infinitiv (wett goo luegewett go luege): Der Infinitiv goon (gaan) entwickelt eine nicht betonte Form gon (gan) vor Infinitiven: Er mue goo schaffeEr mue go schaffe ‚Er muss arbeiten gehen‘. Die Form steht grammatikalisch gesehen zwischen Verb und Partikel (ein „grammatisches Wörtchen“).
    Auch die Verben kommen, lassen und anfangen entwickeln reduzierte Formen: cho, lo/la, afa/afo.
  2. Verbalpräposition (gen Westengen schauen): Etwa gleichzeitig wird die Präposition gon/gan/gen ‚gegen, in Richtung‘, die zuvor nur vor Substantiven steht (gen Westen ziehen), auch vor Verben üblich, wo sie Bewegung ausdrückt (go luege goo ’schauen gehen‘ geht der Bedeutung nach also auf „gegen das Schauen gehen“ zurück).
  3. go-Regel: Die reduzierte Form gon/gan aus (1) und die Präposition gon/gan/gen aus (2) stehen an derselben Stelle in vergleichbaren Konstruktionen: „Verb + gon (1) + Inf.“ bzw. „Verb + gon (2) + Inf.“. Sie verschmelzen zu einer einzigen Konstruktion „Verb + gon + Inf.“. Bei Verben der Bewegung wird go(n) obligatorisch (das -n fällt mit der Zeit weg).
  4. Verdopplungsregel: Die Konstruktion „Verb + go + Infinitiv“ wird im Falle von „gehen + go + Inf.“ als „2x gehen + Inf.“ wahrgenommen. Parallel dazu wird statt „kommen + go + Inf.“ die Konstruktion „2x kommen + Inf.“ gebildet – die Verbverdopplungsregel ist geboren.

Diese Chronologie gibt Antworten auf die oben aufgeworfenen Fragen: Dass die Konstruktionen je nach Kontext verschiedene Eigenschaften haben, erklärt sich dadurch, dass die jeweiligen Konstruktionen einem Zwischenstand entsprechen, sie sind sozusagen „auf halber Strecke stehen geblieben“.

Dort, wo ursprünglich der reduzierte Infinitiv stand (z.B. nach Modalverben, Ich wett go bade! ‚Ich will baden gehen!‘), funktioniert die Konstruktion auch heute noch ähnlich wie im Standarddeutschen – sie ist eigentlich immer noch im Stadium 1 (nicht betonter Infinitiv).

Die Verwendung mit Bewegungsverben geht auf die Präposition gon/gan/gen ‚gegen, in Richtung‘ zurück. Bis Stadium 3 handelt es sich nicht um eine Verdopplungsregel, sondern um eine Partikel (Stadium 2), die mit dem reduzierten Verb identifiziert wurde (Stadium 3). Dies ist die Konstruktion Ich gang go bade. ‚Ich gehe baden.‘ bzw. Chunsch au go bade? ‚Kommst du auch baden?‘.

Die Verdopplungsregel greift erst in Stadium 4: Chunsch au cho bade? ‚Kommst du auch baden?‘.

Die Form Ich gang cho bade ist weder nach der Regel „zwischen Bewegungsverb und Infinitiv steht go“ aus Stadium 3 noch nach der Regel „gehen wird mit go verdoppelt, kommen mit cho“ aus Stadium 4 zu erwarten. Aber wenn verschiedene Stadien gleichzeitig anwendbar sind, können auch unchronologische Mischungen entstehen. Um solche handelt es sich auch bei goge und choge, wo Regel 3 doppelt angewendet wurde (go-go > go-ge) bzw. Regel 4 und dann nochmals Regel 3 (cho-go > cho-ge).

Je nach Dialekt unterschieden sich die geltenden Regeln. Aber auch am gleichen Ort können sich die Stadien überlagern – eine Sprecherin wendet konsequent Regel 4 an, ein Sprecher Regel 3 und deren Kind macht eine Mischung. Grosso modo sind am östlichen Rand und in südwestlichen Reliktgebieten die go-Regel (Stadium 3) aktuell, während sich von der Mitte her die Verdoppelungsregel (Stadium 4) durchsetzt.

Stadium 5: lassen und anfangen

Den 4. Schritt, die Verdopplungsregel, kann man noch weiter ziehen. Dies ist ausgehend von der Kernzone (BL)-LU-Innerschweiz geschehen. Dort und im Kanton Bern werden auch lassen und z.T. anfangen wiederholt:

Wemer seisch, was de weisch, loni Kafi lo cho und de lo di vilecht usnahmswis mou i mim Büro lo rouke.
‚Wenn du mir sagst, was du weisst, lasse ich Kaffee _ kommen und dann lass‘ ich dich vielleicht ausnahmsweise mal in meinem Büro _ rauchen.‘
(aus Pedro Lenz: Der Goalie bin ig, Seite 67)

Es isch haubi eis u ds Liecht geit a
dr Hene chunnt mit sim Lumpe
u faat überau afa umefäge
u verbreitet Schtress im Schpunte
‚… und fängt an, überall zu putzen …‘
(ZüriWest: Sofa)

Dies wäre dann Stadium 5: Das Prinzip aus Stadium 4, choo wie goo in einer reduzierten Variante nochmals aufzunehmen, wird auf laa ‚lassen‘ und afaa ‚anfangen‘ ausgedehnt, die beide auch einen reduzierten Infinitiv besitzen (vgl. Stadium 1).

Wie viel hat das mit Kurzverben zu tun?

Dass es sich bei allen vier Verben um Kurzverben handelt, ist nicht Zufall, aber auch nicht ausschlaggebend. Kurzverben sind lautlich in einer guten Position, um zu einem grammatischen Wörtchen zu werden, da sie schon sehr kurz sind und eher häufig vorkommen.

Ausschlaggebend war aber, dass die Partikel go(n)/ga(n)/ge(n) gleich lautete wie der reduzierte Infinitiv go(n)/ga(n) und in einer fast parallelen Konstruktion Verwendung fand. Voraussetzung dafür ist wiederum, dass die Satzstellung zweier Infinitive AUX-INF und nicht INF-AUX ist: Er cha’s nid loo sii (AUX-INF), im Gegensatz zu Er kann’s nicht sein lassen (INF-AUX).

In den Stadien 4 und 5 mag hingegen die Kurzverb-Verwandtheit als Türöffner für Analogie gespielt haben.

tl;dr

Aus dem reduzierten Infinitiv go und der Präposition gon/gan/gen ‚gegen, in Richtung‘ bildete sich eine Form go heraus, die nun zwischen Bewegungsverben und Infinitiven stehen muss. Diese dehnte sich auch auf cho, lo und afa aus, dies jedoch nicht in allen Dialekten im selben Masse. Die Verwendung von go und cho ist ebenfalls nicht einheitlich. Go ist häufiger, da die Konstruktion zuerst mit go fixiert wurde (eine sogenannte Grammatikalisierung). Die Form nach Modalverben ist immer noch der reduzierte Infinitiv.

Alltag

  • Chum’s go hole oder Chum’s cho hole?
  • Chum’s goge hole, Chum’s choge hole: komisch? okay?
  • Laa’s la sii oder Laa’s sii?
  • Fööt/föönd afa butze oder Föönd/fanged aa butze?

1 Kommentar

  1. Elisabeth Leutert

    wahnsinnig, etz mueni min Chopf goge uusruebe. Spannend, aber streng ! Chapeau Kim. Chum mi bald widermol goge bsueche…

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