Kurzverben (7): Der Konjunktiv I – „sie heb gseit er seg“

Der Konjunktiv I ist viel seltener als der Indikativ, mit dem sich die bisherigen Teile beschäftigt haben. Aber für Dialektologinnen und Mundartliebhaber ist er ein Fest der Formenvielfalt und Kreativität.

Ob das scho aues sig, hani wöue wüsse, woni scho zur Nasen us bblüetet ha und hane gseit, si sige fertigi Weichschnäbeler und i heig no nie so bireweichi Memmene gseh, wo söfu schwach schlönge.
‚Ob das schon alles sei, wollte ich wissen, als ich schon aus der Nase blutete, und sagte ihnen, sie seien fertige Weicheier und ich hätte noch nie so bescheuerte Memmen gesehen, die so schwach schlügen.‘ (aus Der Goalie bin ig von Pedro Lenz, Seite 141)

Der Konjunktiv I kennzeichnet die indirekte Rede: Sie hat gesagt, er sei gerade draussen. Er markiert eine gewisse Distanz. Nicht er ist, sondern er sei, dem Vernehmen nach. Es handelt sich um eine Information aus zweiter Hand, deren Richtigkeit man nicht beurteilen kann. Dafür eine eigene Form zu haben, kann sehr praktisch sein:

A: Häsch de neu Compi scho gholt?
‚Hast du den neuen Computer schon geholt?‘
B: Nei, aber er chömi morn.
‚Nein, aber er komme morgen.‘

Die Antwort impliziert, dass B sich erkundigt hat, ob der Computer schon da ist. Der Konjunktiv I kennzeichnet die Auskunft als Aussage von jemand anderem.

Der Konjunktiv I bei Normalverben

Im Standarddeutschen lässt sich der Konjunktiv I nur in der 3. Sg. und der 2. Sg./Pl. vom Indikativ (der „normalen“ Aussageform) unterscheiden:

Er singt gern. (Indikativ)
Er singe gern. (Konj. I)

Wo die Formen deckungsgleich sind, weicht man auf den Konjunktiv II aus:

Sie singen gern. (Indikativ)
Du hast gesagt, sie singen gern. (Konj. I = Indikativ)
Du hast gesagt, sie sängen gern. (Konj. II, in der Funktion des Konj. I)

Auf Schweizerdeutsch ist der Konjunktiv I besser vom Indikativ abgesetzt:

Sie singed gern. (Indikativ)
Du häsch gseit, sie singid gern. (Konj. I)

Er hät gseit, ich schnarchi. (Konj. I – also seine Meinung, nicht meine.)
Ich ha gseit, er schnarchi. (Konj. I – die 3. Sg. lautet im gleich wie die 1. Sg.)

Das Kennzeichen des Konjunktivs I bei Normalverben ist also -i. So z.B. im Lied „Tubel Trophy“ von Baby Jail:

Er hät tänkt, er heg es Rächt uf Sicherheit für immer
hät sich vorgstellt s Mami butzi s Läbe lang sis Zimmer
‚Er hat gedacht, er habe ein Recht auf Sicherheit für immer / hat sich vorgestellt, Mutti putze das Leben lang sein Zimmer‘

Er butzt wäre Indikativ, er butzi Konjunktiv I. Mit er heg kommen wir zu den Kurzverben.

Der Konjunktiv I bei Kurzverben

Im Standarddeutschen hat nur das Kurzverb sein einen speziellen Konjunktiv-I-Stamm, bei anderen hingegen wird derselbe Stamm wie für den Indikativ benutzt, mit dem Resultat derselben Überschneidungen wie bei Normalverben:

Sie sagte, ich sei zu laut. (Konj. I von sein)

Ich sagte, ich habe/hätte keine Lust. (Indikativ = Konj. I / Konj. II in der Funktion des Konj. I)

Sie meinten, wir gehen/gingen ins Restaurant. (Indikativ = Konj. I / Konj. II in der Funktion des Konj. I)

Auf Schweizerdeutsch hingegen gibt es spezielle Formen, die sich oft auch im Stamm unterscheiden (Beispiele auf Schaffhauserdeutsch):

Ich ha kei Lust. ‚Ich habe keine Lust‘ (Indikativ)
Ich ha gseit, ich heb/heg kei Lust. (Konj. I)

Mir gönd is Restaurant. ‚Wir gehen ins Restaurant‘ (Indikativ)
Sie händ gmeint, mir genged/gönged/gösed is Restaurant. (Konj. I)

Im Schweizerdeutschen unterscheidet sich der Konjunktiv I also sowohl bei Normal- als auch bei Kurzverben vom Indikativ, während im Standarddeutschen der Konjunktiv I in einigen Fällen mit dem Indikativ überlappt und deshalb durch den Konjunktiv II vertreten wird:

Varietät Indikativ Konj. I Konj. II
Stddt. sie singen singen / sängen sängen
CH sie singed singid singti/säng/wür singe
Stddt. ich habe habe / hätte hätte
CH ich ha heig/heg/heb hätt, hett
Stddt. wir gehen gehen / gingen gingen
CH mir gönd genged/gööi gieng
Tabelle: Gegenüberstellung Indikativ – Konjunktiv I – Konjunktiv II im Standarddeutschen und Schweizerdeutschen (schematisch)

Bildungselement 1: Auslautender Konsonant

Si het gfunge, so göngs nid und si heig eifach ds Gfüeu, i sig en extreme Lafericheib.
‚Sie hat gefunden, so gehe es nicht und sie habe einfach das Gefühl, ich sei ein extremer Schwätzer.‘ (aus Der Goalie bin ig von Pedro Lenz, Seite 128)

Pedro Lenz schreibt in nördlichem Berndeutsch. In diesem Satz haben wir Konjunktiv-I-Formen von sein, haben und gehen.

  • Es göng ‚es gehe‘ baut auf dem Plural-Stamm mit Umlaut auf. Wir erinnern uns an Teil 5 und Teil 6: du gaa-sch, dir göö-t. Dieser Umlaut-Stamm ist vermischt mit gang-, der alten Langform, die in manchen Dialekten in der 1. Sg. erhalten ist: ich gang. Daraus wird ein Amalgamat, das sich von allen anderen Stämmen abhebt: göö + (ga)ng = göng.
  • Bei si heig ’sie habe‘ ist ebenfalls ein neuer Stamm zusammengeschmiedet worden. Der vordere Teil hei- deckt sich mit mir hei ‚wir haben‘, aber woher kommt das -g? von haben kann es nicht kommen, da ist kein -g. Es muss also von einem anderen Verb auf den Konj. I von haben übertragen worden sein. Es könnte sich um einen Rest des Verbs eigan handeln, das im Althochdeutschen ebenfalls ‚haben‘ bedeutete.
  • Ganz ähnlich i sig ‚ich sei‘: auch hier ist der bekannte Pluralstamm (mir si ‚wir sind‘) mit -g angereichert. Dieses muss in Analogie zu haben eingeführt worden sein.

Die Konsonanten -g, -ng werden also mit dem Pluralstamm verschmolzen (der Konjunktiv I baut auf dem Pluralstamm auf). Sie stammen entweder aus dem langen Stamm (ich göng) oder von einem anderen Verb (heig, sig) Mehr Beispiele dazu kommen in der folgenden Passage vor:

Aber är wieder nei, i söu nid spinne, är heig nüt, är sig zwäg, sig nume schnäu cho sälü säge, heigmer ds Couvert mitbrocht, tüeg ihm leid, dass es chli länger sig ggange. Und daser froh sig, seiter no, dasmen ändlech e Strich chöng drunger zieh.
‚Aber er meint wieder nein, ich solle nicht spinnen, er habe nichts, es gehe ihm gut, er sei nur schnell gekommen, um hallo zu sagen, habe mir den Brief mitgebracht, es tue ihm leid, dass es ein bisschen länger gedauert habe. Und er sei froh, sagt er noch, dass man endlich einen Strich darunter ziehen könne.‘ (aus Der Goalie bin ig von Pedro Lenz, Seite 15)

Konjunktive von sein und haben sind recht häufig. Dies passt zu den in Teil 3 verhandelten Frequenz-Gesichtspunkten.

Die Form es tüeg ‚es tue‘ (Indikativ: es tuet ‚es tut‘) zeigt wieder analog eingeführtes -g. Dasselbe in grün ist bei me chöng ‚man könne‘ (Indikativ: me cha ‚man kann‘) zu sehen: Hier wurde -ng (wohl von ich gang) analogisch verschmolzen (mit „sauberem“ Anschluss an die Langform entstünde ja chön mit -n). Auch si schlönge ’sie schlagen/schlügen‘ (vgl. Zitat am Anfang des Artikels) ist so zusammengesetzt (Indikativ: sie schlöö ’sie schlagen‘).

Weitere Formen, die so gebildet werden können, sind zum Beispiel:

  • er lös ‚er lasse‘ (Indikativ: er loot ‚er lässt‘)
  • sie gös, göch ’sie gehe‘ (Indikativ: sie goot ’sie geht‘)
  • me gsäch ‚man sehe‘ (Indikativ: me gseht ‚man sieht‘)
  • es gäb ‚es gebe‘ (Indikativ: es git ‚es gibt‘)

Ein Bildungselement ist also Anhängen eines Auslautskonsonanten. Dabei sind zwei Varianten zu unterscheiden:

  • Übernahme des Auslautkonsonanten aus der Langform (lös mit -s wie lassen)
  • analogische Übertragung des Auslautkonsonanten aus dem Konjunktiv I anderer Kurzverben (gös mit -s, das nicht auf eine inexistente Form gesen zurückgeht, sondern in Analogie zu lös gebildet wird)

Bildungselement 2: -i

Ein weiteres Bildungselement sehen wir bei folgenden Beispielen:

Am Tag wo är isch gange het’s die ganzi Nacht lang grägnet
är sigi ufgschtange u heig sech eifach querfäudii vom Acher gmacht
‚Am Tag, an dem er verschwand, hat es die ganze Nacht geregnet
er sei aufgestanden und habe sich einfach querfeldein vom Acker gemacht‘
(ZüriWest: Am Tag wo är isch gange)

Er hegi, trotz Vergrämigsmassnahme, d Angst vor de Mensche verlore und segi de Bevölkerig aidütig z nööch cho.
‚Er (der Bär „M13“) habe, trotz Vergrämungsmassnahmen, die Angst vor den Menschen verloren und sei der Bevölkerung eindeutig zu nahe gekommen.‘ (alemannische Wikipedia: M13)

Diese Formen zeigen wieder die Konjunktiv-I-Endung -i, die dem Schweizerdeutsch eigen ist. Sie kann nicht nur an Normalverben angehängt werden, wie oben schon gesehen, sondern auch als zusätzliches Bildungselement bei Kurzverben dienen. Weitere Formen, die so gebildet werden, sind zum Beispiel:

  • er löngi ‚er lasse‘ (Indikativ: er laat ‚er lässt‘)
  • sie gengi, gösi ’sie gehe‘ (Indikativ: sie goot ’sie geht‘)
  • es hebi ‚es habe‘ (Indikativ: es hät ‚es hat‘)

Das -i kann auch alleiniges Bildungselement sein:

  • er lö-i ‚er lasse‘
  • sie gö-i ’sie gehe‘
  • es tüe-i ‚es tue‘

Bildungselement 3: Entrundung

Konjunktive I servieren uns auch Stahlberger (aus St. Gallen) im Lied Monika:

Aber du seisch, es chäm en Change
du seisch, du sigsch an andere Mänsch
‚Aber du sagst, es komme ein „Change“ – du sagst, du seist ein anderer Mensch‘

Beim Konj. I es chäm ‚es komme‘ ist nicht die Endung, sondern der Stammvokal speziell: es chunt ‚es kommt‘ hat u. Der Plural, auf dem der Konjunktiv I basiert, hat ein ö: mir chömed ‚wir kommen‘. Das ä des Konj. I lässt sich nur aus dem ö erklären: Es ist entrundet (vgl. Teil 5). Dadurch wird ein zusätzlicher Vokal eingeführt, der den Konjunktiv nicht nur vom Indikativ Singular, sondern auch vom Indikativ Plural absetzt.

Fazit: Alles ist möglich?

Wenn man sich Konjunktiv-I-Formen anschaut, hat man das Gefühl, alles sei möglich: zu es gehe existieren z.B. die Konjunktive gös, geng, göng, göch, gengi, gösi, göngi, göchi, gööi, gööji, gaai, göig, gang, gangi.

Allerdings sind nicht alle Bildungen bei jedem Verb und nicht in jedem Dialekt möglich. Er gaai ist z.B. nur im Westen gebräuchlich, er göchi wohl für das Sprachempfinden vieler Deutschschweizer hart an der Grenze. Bei lassen sieht es wieder anders aus: sie lös empfinde ich als normal, sie löch, sie leng oder sie leg ist nicht akzeptabel.

Es ist also nicht alles möglich, aber im Vergleich zum Standarddeutschen sehr viel. Dies illustrieren die präsentierten Müsterchen. Der Strauss an Möglichkeiten ist bemerkenswert, könnte man doch auch einfach ein -i anhängen. Das oberste Gebot scheint zu sein, einen Stamm zu produzieren, der sich klar abhebt – Dies spricht wieder dafür, dass bei speziellen Verbgruppen nicht nur möglichst einfache und logische Bildung, sondern auch klare Unterscheidung der Formen wichtig ist, wofür eine gewisse Komplexität in Kauf genommen wird (vgl. Teil 2 zur Morphologie).

Die Formen sind nicht unbedingt „kurz“ im Sinne von Kurzverben (vgl. Teil 4): Sie lauten oft nicht auf Vokal aus, sondern benutzen einen etwas längeren Stamm. Doch die Kennzeichnung des Konjunktivs I benötigt oft keine zweite Silbe, eher wird dafür in den Stamm eingegriffen durch Manipulationen am Vokal oder am auslautenden Konsonanten. Der Konjunktiv I ist im Allgemeinen länger als der Indikativ, aber kürzer als die entsprechenden standarddeutschen Formen.

Im Detail kann man die Bildungsweisen im Aufsatz von Andreas Lötscher aus dem Jahre 2010 nachlesen: Luzernerdeutsch „möig“ – ‚er müsse‘: Irregularität und System bei schweizerdeutschen Kurzverben. Zu findem im Sammelband Alemannische Dialektologie: Wege in die Zukunft, Seiten 115–131.

tl;dr

Der Konjunktiv I lässt sich mit verschiedenen Mitteln (oder einer Kombination daraus) bilden. Oft sind mehrere Formen akzeptiert, mit regionalen Unterschieden. Es besteht eine grosse formale Vielfalt.

Der Ausgangspunkt ist der Pluralstamm. Dann können verschiedene Manipulationen vorgenommen werden:

  • Auslautkonsononanten: besonders auslautendes -g scheint bei haben, sein und tun ein generalisiertes Zeichen des Konj. I geworden zu sein: er heig, sie sig, es tüeg. Aber auch -ch, -s und -ng sind mögliche Auslautkonsonanten, die aus einer Langform wieder eingeführt oder von einem anderen Kurzverb analog übertragen werden: es göng ‚es gehe‘, sie schlöng/schlös ’sie schlage‘, er tös/töch/tüeng ‚er tue‘.
  • Die Endung -i kann meist zusätzlich angehängt werden: sie tüeg oder sie tüegi ’sie tue‘. Im Westen dient sie auch als alleinigs Bildungselement: er löö-i ‚er lasse‘.
  • Entrundung produziert zusätzliche Vokalwechsel: sie chem (chöm) ’sie komme‘, es geng (göng) ‚es gehe‘.

sich auf den Mund schauen

Wie sage ich (und wie meine Bekannten)? Anhand einer Konversation übers Wetter lässt sich das überprüfen:

  • Es …… (gseh) guet us mit em Wetter da Wuchenend, hät’s gheisse.
  • Ich ha ghört, es …… (choo) go regne
  • Händs nid sogar gseit, es …… (gää) e Gwitter?
  • Ich ha gmeint, ihr …… (goo) da Wuchenend sowieso id Ferie!
  • Nei, mir gönd ersch am Mäntig, di andere händ gmeint, es …… (haben) am Wuchenend immer Stau und da …… (tue) sie sich nid aa.

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