r-Laute: geRollt, geschnaRRt, vokalisieRt

Die Spanierinnen rollen das /r/ mit der Zungenspitze, ebenso die Bayern und die Schottinnen – im Gegensatz zu den Engländern, ausser im Norden. Allerdings spricht man in Grossbritannien das -r am Wortende nicht aus, in den USA schon, ausgenommen widerum der Osten (z.B. Bernie Sanders), wobei unterdessen auch dort rhotische Aussprache normal ist. Edit Piaf rollte es hinten (Rrrien de rrrien, je ne rrregrrrette rrrien), sonst wird es in Frankreich meist hinten geraspelt, ebenso im Hochdeutschen, ausser vielleicht in der Bühnensprache. In der Schweiz rollen es die meisten vorn, manche aber auch hinten, in Basel klingt es wie ein ch, in der Ostschweiz halb verschluckt – so weit alles klar?

Der erste Teil dieses Beitrags setzt sich mit der „Produktion“ der /r/-Laute im Mund auseinander. Phonetisch gesehen handelt es sich nämlich um ganz verschiedene Laute. Dies ist uns bewusst, sonst könnten wir ja nicht zwischen „englischem“, „italienischen“ und „Edit-Piaf-/r/“ unterscheiden – dann fragt sich aber, warum wir die verschiedenen Laute trotzdem alle als /r/ hören.

Im zweiten Teil geht es um die Verbreitung der verschiedenen /r/-Varianten, um ihre soziale Bedeutung und darum, wie die jeweilige Verteilung historisch zu Stande gekommen ist.

Schreibungen zwischen Schrägstrichen bezeichnen das Phonem /r/, also alles, was im Lautsystem als /r/ durchgeht. Schreibungen in eckigen Klammern bezeichnen Allophone, also Aussprachevarianten desselben Phonems, z.B. [ʀ, ʁ, r].

Laute, die wir als /r/ bezeichnen

Was wir als „unterschiedliche Aussprache von /r/“ wahrnehmen, sind Laute, die zuerst einmal wenig miteinander zu tun haben. Phonetisch handelt es sich sowohl um verschiedene Artikulationsarten als auch -orte.

Der Mundraum funktioniert als Artikulationsapparat, indem kontrolliert Luft „hindurchgeblasen“ wird und gegebenenfalls durch Schwingung der Stimmlippen Stimmhaftigkeit „beigefügt“ wird (vgl. z.B. /s/ in was mit /z/ in Rose). Die Luft wird durch verschiedene Konstellationen im Mundraum modifiziert, wobei meist die Zunge zum Einsatz kommt.

Artikulationsorte

Ein /p/ wird mit den Lippen gebildet, ein /k/ mit der Zunge am Velum, ein /t/ mit der Zunge am Zahndamm (alveolar) – und dort, an den Alveolen, wird auch das „vorn gerollte“ /r/ produziert. „Hintere“ /r/ sind meist uvular, also mit dem hinteren Teil der Zunge am Halszäpfchen gebildet.

Artikulationsorte (alveolar, uvular); basierend auf Grafiken von Wikimedia

Artikulationsarten

Die Laute /t/, /s/ sowie /r/ [r] werden alle an den Alveolen gebildet. Der Unterschied besteht darin, wie der Mundraum verengt wird. Beim /t/ ist der Verschluss für den Bruchteil einer Sekunde absolut, es wird Luft aufgestaut und dann in einer „Explosion“ freigesetzt. Beim /s/ wird kein Verschluss herbeigeführt, sondern nur eine Verengung, welche die Luft hindert. Die Turbulenzen in der hindurchströmenden Luft hören wir als Reibelaut /s/.

Für /r/ sind folgende Artikulationsarten von Interesse:

Trill (dt. Vibrant, vgl. Wikipedia): Für das „vorn gerollte“ /r/ [r] wird die Zunge ebenfalls recht nahe an die Alveolen herangeführt, dabei jedoch locker gelassen, sodass sie im Luftstrom flattert. Ein [r] besteht aus mehreren Anschlägen der Zunge an die Alveolen in kurzen Abständen (dasselbe kann man übrigens auch mit den Lippen machen: brrr). In einem Spektrogramm werden die periodischen Wiederholungen der Luft- und damit Lautmuster sichtbar:

Nach ca. 35 ms wiederholt sich das Muster. Typischerweise dauert ein [r] nur 2–3 Zyklen, also ca. 100 ms (vgl. Laver 1995: 291; Zimmermann 1995: 271). Der uvulare Trill [ʀ] („Edit-Piaf-r“) funktioniert analog, die Vibration findet einfach im hinteren Mundraum statt mit Hilfe des Zäpfchens.

Neben Trills gibt es auch Frikative und Approximanten, die als /r/ wahrgenommen werden.

Frikative sind Reibelaute wie /s/. Sie werden durch Verengung produziert. Beim uvularen Frikativ [ʁ] stellt der hintere Teil der Zunge eine Enge beim Zäpfchen her. Im Spektrogramm ist ein „Grundrauschen“ zu sehen, das sich mit der Schwingung der Stimmlippen überlagert:

Für Approximanten wird der Mundraum weniger verengt als für Frikative. Ein Approximant ist das „englische /r/“ [ɹ] (alveolarer Approximant), aber auch der deutsche Frikativ [ʁ] wird oft etwas „faul“ als uvularer Approximant [ʁ̞] ausgesprochen. Approximanten sind recht nahe an Vokalen, da der Luftstorm wenig „gestört“ ist; dies wird im Spektrogramm sichtbar:

Wenn wir näher heranzoomen, wird die regelmässige, vergleichbar einfache Schwingungsabfolge (die auch Vokale aufweisen; vgl. im Gegensatz dazu die Spektrogramme der Trills und Frikative) noch besser sichtbar:

Zwischen Zahndamm und Zäpfchen können weitere Approximanten oder Frikative produziert werden, die als /r/-Laute eingesetzt werden. Diese werden in der Literatur oft einfach „dorsal“ genannt, also „mit dem Zungenrücken produziert“, was offen lässt, ob es sich um palatale oder velare Konsonant handelt.

Schwächung im Silbenauslaut: Besteht eine grössere Öffnung als bei einem Approximanten, spricht man nicht mehr von einem Konsonanten, sondern von einem Vokal. Und in der Tat treten auch vokalisierte /r/ auf, meist am Wortende: dt. Lehrer, standarddeutsch mit einem abgeschwächten -a [-ɐ] im Auslaut gesprochen, ebenso britisch-engl. teacher mit Schwa [-ə] – so auch im Silbenauslaut vor Konsonant, vgl. Garten bzw. garden. Eine weitere Möglichkeit der Schwächung im Silbenauslaut ist Elision, also gänzlicher Wegfall des /r/; im britischen Englisch (und anderen nicht-rhotischen Dialekten des Englischen) etwa garden, wo das /r/ im /ɑː/ aufgeht.

Arten und Orte – wie und wo /r/ produziert werden

Die Artikulationsarten und -orte nochmals zusammengefasst, inklusive Hörbeispielen:

Artikulationsart Beschreibung Artikulationsort IPA
Trill (Vibrationslaut, „gerollt“) Der Mundraum wird bei den Alveolen (dem Zahndamm) bzw. beim Zäpfchen (der Uvula) mit der Zunge fast verschlossen. Dann wird Luft hindurchgeblasen, worauf die Zunge bzw. das Zäpfchen „flattert“ (mehrere kurze Anschläge nacheinander). So erzeugte Vibrationslaute werden umgangssprachlich als „gerollt“ bezeichnet. alveolar (beim Zahndamm) [r]
uvular (beim Zäpfchen) [ʀ]
Frikativ (Reibelaut) Das „hochdeutsche“ /r/: Der Mundraum wird beim Zäpfchen verengt, wodurch der Luftstrom gehemmt wird. Dies ist dasselbe Prinzip wie z.B. bei Rose mit stimmhaftem s (/z/) uvular [ʁ]
Approximant Das „englische“ /r/: Der Luftstrom wird nur leicht gehemmt, weniger als bei einem Frikativ. Das deutsche [ʁ] kann auch als Approximant (also mit grösserer Öffnung) gesprochen werden. alveolar [ɹ]
dorsal (palatal, velar)
uvular [ʁ̞]
vokalisiert (zu Vokal reduziert) je nach Sprache oder Dialekt resultieren verschiedene Laute; im Standarddeutschen wird der Laut am Ende von Lehrer als [ɐ] beschrieben [‚leːrɐ]; im nicht-rhotischen Englischen (britisch, australisch etc.) als [ə], z.B. teacher [‚tʰiːtʃə] [ə/ɐ/…]
elidiert Wegfall; z.B. englisch more, wenn [mɔː] ausgesprochen

Obwohl diese Laute recht verschieden klingen, nehmen wir sie alle als /r/ wahr, wenn wir sie hören. Dies ist der Unterschied zwischen Phonem und Phon (bzw. Allophon): Es handelt sich um unterschiedliche Phone („real artikulierte Laute“), aber um dasselbe Phonem (Laut im System). Auch die Spektrogramme sehen recht verschieden aus:

Es ist nicht abschliessend ermittelt, was das verbindende Element dieser Laute ist. Damit sie im Sprachsystem demselben Phonem zugeordnet werden können, ist anzunehmen, dass sie eine verbindente Ähnlichkeit aufweisen. Im Deutschen hat z.B. <ch> zwei Allophone, [ç] in ich und [x] in ach, beides stimmlose Frikative mit ähnlichem Klang. Keine Sprache der Welt wird hingegen [x] als Allophon von /b/ haben, da sie keinerlei Ähnlichkeit aufweisen.

Laut Wiese (2003: 27) ist die Gemeinsamkeit der /r/-Laute die hohe Sonorität: Ob gerollt, geschnarrt oder Approximant, /r/ steht in puncto Sonorität (Stimmhaftigkeit, „Klangfülle“, „Schwingungskraft“) zwischen höchst sonoren Vokalen und eher wenig „klingenden“ Konsonanten wie /d/ oder /f/, wo die Schwingung gehemmt bzw. nicht vorhanden ist. Das prädestiniert /r/ auch, in bestimmten Positionen in Wörtern aufzutreten, wo andere Konsonanten nicht stehen, z.B. zwischen sp und Vokal wie in springen. Dasselbe gilt übrigens auch für /l/, vgl. z.B. Splitter – darum ordnen SprecherInnen mancher Sprachen /l/ demselben Phonem wie /r/ zu (vgl. Wikipedia zu l/r-Wahrnehmung von Japanisch-SprecherInnen), und auch in europäischen Sprachen sind r/l-Umsprünge nicht selten, wie auf diesem Blog bereits beschrieben.

Wähl dein /r/: Motivationen, das eine oder das andere /r/ zu verwenden

Die Allophone von /r/, [r, ʀ, ʁ, ɹ, ʁ̞] und weitere, können also aufgrund der ähnlich hohen Sonorität demselben zugrundeliegenden Laut im System zugeordnet werden. Aber was bestimmt nun, welches /r/ in einer Sprache, einem Dialekt verwendet wird?

Phonetisch gesehen liesse sich der Aufwand beim Lernen und Produzieren anführen: Approximanten sind einfacher zu artikulieren als Trills und der alveolare Trill ist schwieriger zu lernen als der uvulare, was sich u.a. daran zeigt, in welchem Alter Kinder das /r/ ihrer Muttersprache meistern.

Das vorn gerollte [r] hat allerdings auch einen Vorteil: es ist sehr deutlich. Wohl deshalb wurde es in der deutschen Bühnenaussprache noch lange, z.T. bis heute, beibehalten.

Uvulare /r/ sind allerdings trotz Kraftersparnis nur in Europa verbreitet. Der alveolare Trill [r] scheint über alle Sprachen gesehen die prototypische Realisierung zu sein, andere werden oft daran gemessen und sogar als „mangelhaft“ gesehen.

Hier kommt die Soziolinguistik ist Spiel: auch wenn alle /r/-Varianten verstanden werden, haben sie einen unterschiedlichen Beiklang, der sich je nach Kontext stark unterscheidet. Wer in Berlin mit einem vorn gerollten [r] ankommt, mag als urchig bis hinterwäldlerisch beurteilt werden, in der Schweiz gelten aber gerade umgekehrte Vorzeichen: Das Ostschweizer Approximanten-/r/ wird in Zürich oder Bern eher als bäuerisch taxiert. Welche /r/ sich wo verbreiten, hängt also sehr stark mit einer Wertung zusammen, die nicht aus der Sprache selbst zu erklären ist, sondern mit gesellschaftlichen Verhältnissen (Klassen, Regionen, Geschlecht etc.) zu tun hat. Solche Wertungen werden auf die Sprache projiziert und steuern die Ausbreitung der verschiedenen Lautungen.

Standarddeutsch („Hochdeutsch“)

Der meistverbreitete /r/-Laut im Deutschen ist heute der uvulare Approximant [ʁ̞], im Silbenauslaut die reduzierten Formen (vokalisiert/elidiert). Dies gilt v.a. für den Norden Deutschlands, im Süden des deutschen Sprachgebiets (Bayern, Österreich, Schweiz) ist der alveolare Trill [r] noch sehr verbreitet.

Lange herrschte die Meinung vor, hinteres [ʀ, ʁ, ʁ̞], stamme aus dem Französischen, von wo es im 17. Jahrhundert als „Mode“ von der Oberschicht übernommen worden sei. Diese Theorie ist aber unterdessen widerlegt, da uvulares /r/ im Germanischen nachweislich älter ist: Einerseits gibt es ältere Beschreibungen der Aussprache regionaler Mundarten sowie Verschriftlichungen und Reime, die uvulares /r/ im Deutschen belegen oder darauf hindeuten; andererseits wird es heute auch in konservativen Dialekten in Bayern isoliert verwendet (Reliktgebiete). Auch war die Aussprache des französischen Adels, die als Vorbild gedient haben soll, wohl eher alveolar; das uvulare [ʀ] trat erst später seinen Siegeszug an.

Von der momentanen Norm abweichende Aussprachen von /r/ können jederzeit spontan entstehen (so auch das „dorsale“ /r/, doch dazu später). Das uvulare /r/ war also in der Welt, und allen Anzeichen nach bedurfte es dafür keines französischen Einflusses. Die ungleich bedeutsamere Frage bei der Erklärung der heutigen Verbreitung ist dann, unter welchen Umständen es sich so weit ausbreiten konnte.

Ein zentrales Konzept in der Soziolinguistik ist Prestige oder „sozialer Mehrwert“. Wer bestimmte Kleider trägt, erntet in gewissen Kreisen Zustimmung. Der springende Punkt dabei ist in gewissen Kreisen: Unter Anwälten ist es vielleicht eine Krawatte, an einem Hip-Hop-Konzert eher die Kappe der richtigen Marke, die Ansehen geniesst. Analog können auch sprachliche Merkmale als Träger gesellschaftlicher Verortung funktionieren, womit wir wieder bei /r/ sind, das aufgrund der vielen Aussprachevarianten geradezu prädestiniert ist dazu, Differenzen auszutragen.

Das Resultat ist Variation im Grossen und im Kleinen: beim Heranzoomen werden jeweils weitere regionale Ausdifferenzierungen sichtbar. Die verschiedenen /r/-Laute sind auf verschiedenen Bedeutungsachsen angeordnet: Sie können Zugehörigkeit zu Klasse, Region oder Stadt/Land symbolisieren. So kann z.B. Bayern in Abgrenzung zum Norden Deutschlands [r] beibehalten, die Ober- und Mittelschicht Münchens dagegen standarddeutsches [ʀ/ʁ] übernehmen, da es mit Prestige besetzt ist; in Österreich kann das [r] als Zeichen der Eigenständigkeit gegenüber Deutschland dienen, im Zillertal aber das [ʀ] als Zeichen der Urtümlichkeit.

Den Anfang nahm das uvular gerollte [ʀ] (bzw. [ʁ]) als Zeichen der Berliner Oberschicht im 17. Jahrhundert. Von da sickerte es einerseits zu anderen Gesellschaftsschichten durch, andererseits wurde es mit Macht assoziiert, insbesondere mit dem preussischen Militär. Eine zweischneidige Assoziation: Einerseits haben sprachliche Eigenheiten einflussreicher Gruppen gute Chancen, von anderen Kreisen übernommen zu werden, andererseits können sie auch eine Abwehrhaltung hervorrufen. Ein von Berlin in die östliche Provinz versetzer Unteroffizier schreibt 1786 (zitiert nach Zimmermann 1995: 273):

Besonders wurde ich mit meiner schnarrenden Aussprache des R (durch die Gurgel) von den Jungen so unbarmherzig geneckt, daß ich notgedrungen mich bequemen mußte, es mit der Zunge aussprechen zu lernen, was mir sauer genug geworden ist.

Im 18. und 19. Jahrhundert setzt sich das uvulare /r/ im Norden des deutschsprachigen Gebiets allmählich durch, allerdings hält die Oberschicht am gerollten [ʀ] fest, während Mittel- und Unterschicht das /r/ zum Approximanten [ʁ̞] öffnen bzw. im Silbenauslaut vokalisieren (genauer nachzulesen bei Zimmermann 1995).

Vorgebracht wurde gegen dieses weniger prominente /r/ zum einen, dass es mangelhaft sei (über die Sprache lassen sich bekanntlich gut die unteren Schichten massregeln), zum anderen, dass es fremd (französisch) sei und nicht in die deutsche Sprache gehöre (auch Patriotismus wird immer gern über die Sprache ausgetragen) – wie man nun weiss, ohne Basis. Allerdings ging das Französische zu dieser Zeit auch zur uvularen Aussprache über und könnte den Wandel im Deutschen verstärkt haben.

Im 20. Jahrhundert setzen sich die uvularen /r/ [ʀ, ʁ, ʁ̞] weiter durch und erreichen um die Jahrhundertwende 1900 südwestdeutsche Städte. Die Vorreiterfunktion der Städte ist heute noch sichtbar: In ländlichen Gebieten ist alveolares [r] oft noch nicht durch uvulare /r/-Varianten ersetzt, in den Städten mehrheitlich schon. Dieses Muster ist einfach zu erklären: Prestigevarianten sind in Städten von grösserer Bedeutung, da dort gesellschaftliche Schichten ausgeprägter sind und ein „Profilierungsvorteil“ zu erreichen ist durch Übernahme des „/r/ der Herrschenden“. Auf dem Land spielt genau die gegenteilige Dynamik: Abgrenzung von den „snobistischen“ StädterInnen.

Das massgebliche Regelwerk zur Bühnenaussprache schwenkt mit der Auflage von 1957 auf „gleichberechtigt“ um, was [r] und [ʀ] (gerollt!) betrifft, und 1992 wird der wohl letzte Nachrichtensprecher des deutschen Fernsehens mit alveolar gerolltem [r] verabschiedet (zit. nach Zimmermann 1995: 277):

Es wäre durchaus einer eigenen Vorlesung darüber wert, wie er – auf diesem Feld schon ziemlich einsam – dem rollenden R noch einmal zu Ehren verhilft, das im übrigen Medienalltag unter völliger Mißachtung oder unter einem Schnarren leidet […].

Schweizerdeutsch

In der Schweiz ist die Symbolik nochmals etwas anders gelagert als innerhalb Deutschlands: Was die Deutschen machen, ist uns erst einmal suspekt und ein Grund, sich anders zu verhalten. Der alveolare Trill ist denn auch in den meisten Gebieten die Norm und uvulare Aussprachen werden in der westlichen Deutschschweiz negativ bewertet (vgl. Werlen 1980: 57–60).

Dies verhielt sich allerdings um 1900 anders: Bis zum Ersten Weltkrieg hatte Deutsch, wie es in Deutschland gesprochen wurde, ein hohes Ansehen. Also spielte die Dynamik, die auch schon in Deutschland zu sehen war: Uvulare Varianten [ʀ, ʁ] galten als Prestigevariante, was ihnen in Städten Auftrieb verschaffte. Die Vorreiterrolle der Städte zeigt sich exemplarisch im SDS (Erhebung in 50er-Jahren), wo die Städte Zürich und Bern (daneben weitere, u.a. Basel mit eigener Entwicklung) Inseln mit hinterem /r/ darstellen, während rundherum alveolare Trills [r] die Norm sind.

Ausserhalb der Städte fanden hintere /r/-Laute auch in der Nordostschweiz Verbreitung – die Ausbreitung stoppte aber auch hier zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Exemplarisch sind die Aufzeichnungen von 1911 aus Kesswil im Thurgau (am Bodensee, in die Nähe von Romanshorn) von Fritz Enderlin (zit. nach Werlen 1980: 56):

[…] daß in der 1. Klasse (der Volksschule) kein Schüler das Zungen-r, in der 9. Klasse aber alle das Zungen-r sprechen konnten. In der 4. Klasse hielten sich die Zäpfchen-r– und die Zungen-r-Sprecher die Waage.

Eine weitere /r/-Variante findet (oder fand) sich in den Dialekten der Ostschweiz und den deutschen Dialekten rund um den Bodensee: das „dorsale“ /r/, mit [ρ] oder [ɹ] bezeichnet. Es handelt sich um einen Approximanten im mittleren Mundraum, wobei die Angaben zur Lokalisierung variieren (meist palatal). Es ist nicht klar, inwiefern die Ausbreitung im Zusammenhang mit uvularen /r/ zu sehen ist. Einerseits scheint das dorsale /r/ schon vor dem uvularen entstanden zu sein, andererseits können sie miteinander assoziiert werden, da beide nicht vorn gerollt sind. Ich würde das /r/, das heute in der Ostschweiz mehrheitlich zu hören ist, als uvularen Approximanten bezeichnen, was hiesse, dass das dorsale /r/ mittlerweile vom uvularen verdrängt worden ist.

In Gurtnellen in Uri ist uvulares [ʀ] für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts belegt; 1929 habe die mittlere und jüngere Generation diese Aussprache benutzt, 1965 die ältere (vgl. Werlen 1980: 56f.) – das isolierte Emporschwingen und Verblühen in einem Dorf mit damals ca. 1000 EinwohnerInnen lässt vermuten, dass es sich um eine Aussprachevariante handelte, die bei einer einflussreichen Person oder Familie verbreitet war und sich deshalb zu einer lokalen Prestigelautung aufschwingen konnte, die sich eine Zeit gegen die regionale Norm [r] durchsetzen konnte, dann aber wieder von dieser verdrängt wurde – es ist (mutmasslich) ein anschauliches Beispiel eines „lokalen Herds“: mit individueller Variation ist immer zu rechnen, doch nur, wenn dazu Umstände kommen, welche die Aussprache befördern (Prestige), kann sich ein Merkmal verbreiten, und jede nächstgrössere Region stellt eine neue Hürde dar – es ist derselbe Vorgang im Kleinen, der im Grossen den Umschwung von [r] zu [ʀ, ʁ, ʁ̞] herbeiführte.

Die Ausbreitung verschiedener /r/-Varianten ist also eine Art Kräftemessen, das in einem Gebiet in Bezug auf verschiedene Punkte (bodenständig, gebildet etc.) positiv oder negativ konnotiert sein kann, in Teilgebieten jedoch auch genau umgekehrt – man erinnere sich an den Einfluss des Kriegs auf die Wertung in der Schweiz. Aus vielen Auseinandersetzungen auf kommunaler, regionaler, nationaler Ebene mit z.T. widersprüchlichen Symbolisierungen ergibt sich schliesslich die zu einer Zeit gültige Verteilung der Varianten. Schrambke (2010: 68) stellt die Verteilung für Süddeutschland und die Schweiz wie folgt dar (Schweiz stark auf den SDS gestützt, der die Situation der 50er-Jahre abbildet):

Englisch

Englisch hat, ähnlich wie das Deutsche, /r/ in den meisten Varietäten (darunter auch in den Standardvarietäten) reduziert; die verbreitetste Aussprache ist die als Approximant [ɹ]. Auch im englischen existieren eine Reihe von Realisierungen für /r/, darunter auch uvulare (Northumbrian burr, fast ausgestorben) und im amerikanischen Englisch „Verschmelzung“ von Vokal und /r/ (für ausführlichere Informationen sei auf die englische Wikipedia verwiesen). Das schottische Englisch hat eine bisher noch nicht erwähnte /r/-Variante: den Flap [ɾ], eine Art Trill, aber nur mit einem Anschlag.

Ebenfalls eine Reduktion ist die Tilgung von silbenauslautenden /-r/ in „nicht-rhotischen“ Varietäten. Die Standardvarietät des britischen Englisch (Received Pronunciation) elidierte wohl im 18. Jahrhundert das auslautende /-r/, dies übertrug sich auch aufs australische und neuseeländische Englisch sowie auf die östliche und südliche USA (vgl. Wikipedia: Rhoticity in English). Ind den USA und in England ist heute also genau die gegenteilige Aussprache prestigehaft: in England nicht-rhotisch, in den USA rhotisch. Das rhotische /-r/ wird auch im Osten mehr und mehr wieder ausgesprochen, nach dem Zweiten Weltkrieg als Symbol guter Bildung (und wohl auch Zugehörigkeit zur USA, im Gegensatz zu Britannien). Dazu passt, dass African American Vernacular English, der Soziolekt der schwarzen Unterschicht, auch nicht-rhotisch ist.

Ein Phänomen, das sich in nicht-rhotischen Dialekten ergeben kann, ist das linking R: Vor Vokal wird das /r/ wieder gesprochen, also teacher [-ə], aber teacher in London [-ər͜ ɪn]. Das linking R kann in der Folge zu einem intrusive R übergeneralisiert werden, es wird also ein /r/ eingeführt, wo in rhotischen Varitäten keines wäre: Slovakia-r-and Czechia, oder sogar innerhalb eines Wortes: draw-r-ing.

Woher das „englische“ /r/ [ɹ] stammt, ist damit nicht beantwortet – aber wie schon im Deutschen gesehen, kann es durchaus vorkommen, dass eine neue Aussprache entsteht, sich als Prestigeform etabliert und mit der Zeit durchsetzt. Im Englischen scheint dies schon vor 1600 passiert zu sein (vgl. Wikipedia).

Nord- und Westeuropa

Skandinavien: Vor allem Dänisch, aber auch weite Teile von Südschweden (Skåne/Schonen) und Südwestnorwegen haben uvulares /r/ [ʀ, ʁ], während Standard-Schwedisch [r] aufweist, Norwegisch Flap [ɾ] neben weiteren. In Mittelschweden ist ein reduziertes /r/ verbreitet, das als „dorsaler Approximant“ beschrieben werden könnte, aber auch in Richtung eines Frikativs gehen kann und dann ein bisschen nach /ʒ/ (wie in Journal) klingt. In Gotland ist ein velarer Approximant verbreitet, der ähnlich wie ein „englisches“ [ɹ] klingt – wie im deutschen Sprachgebiet ist die Variation in Schweden und Norwegen also recht gross.

Die Aussprache im Holländischen variiert ebenfalls stark (u.a. [r, ɾ, ʀ, ʁ, ɹ]).

Die grossen romansichen Sprachen verhalten sich unterschiedlich:

  • Französisch hat prototypisch [ʁ] (daher wohl die Idee, dass der Uvular im Deuschen von Frankreich übernommen sein müsse). Es erscheint auch stimmlos [χ], gerollt [ʀ], zum Approximanten [ʁ̞] geschwächt, und in Dialekten und nicht-französischen Varietäten oft alveolar gerollt [r].
  • Italienisch hat Zungenspitzen-/r/ [r] als Standard, Norditalien kennt allerdings auch einen uvularen /r/-Laut, der u.U. mit Prestige assoziiert wird.
  • Spanisch hat Flap /ɾ/ und ein davon getrenntes Phonem /r/, das als alveolarer Trill [r] ausgesprochen wird.
  • Portugiesisch hat wie Spanisch zwei Phoneme, Flap /ɾ/ und /r/, dessen Allophone eine relativ kompizierte Verteilung aufweisen; In Portugal herrschen uvulare [ʀ, ʁ] vor (das nach dem bekannten Muster v.a. in Städten als Prestigevariante galt und [r] ersetzte), dialektal ist [r] zu finden, in Brasilien wird das /r/ in verschiedenen hinteren Varianten artikuliert, wobei es oft stimmlos ist, Rio klingt dann z.B. wie Hio.

Zu all diesen Sprachen könnte noch viel mehr gesagt werden, zentral scheinen mir jedoch zwei Punkte:

  • Entstehung: Veränderungen in der Aussprache des /r/ sind nicht ungewöhnlich. Sie sind auch in isolierten Dörfern und in Idiolekten (individueller Aussprache) zu finden, wo sie oft als Aussprachefehler gebrandmarkt werden. Sie bilden den Ausgangspunkt.
  • Verbreitung: Die Voraussetzung für eine Ausbreitung ist, dass die Verwendung von einer einflussreichen Gruppe vorgelebt wird, sodass das Merkmal eine Aufwertung erfährt und seine Verwendung einen Gewinn an Prestige verspricht. Das Merkmal (das je nach Kontext ein gerolltes oder nicht gerolltes, ein hinten oder vorn gesprochenes /r/ sein kann) steht für etwas, das erstrebenswert ist.

Damit eine Aussprachevariante eine andere verdrängt, braucht es also ein bisschen phonetische Variation am Anfang und eine gesellschaftliche Konnotation. Ist letztere über eine lange Zeit gegeben, kann sich eine Aussprachevariante sich über ganze Länder und dafürber hinaus verbreiten.

Quellen

Phonetik

  • Wiese, Richard (2003): The Unity and Variation of (german) /r/. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, Bd. 70, H. 1, 25–43.
  • zu Spracherwerb:
    • Lorena Cataño, Jessica A. Barlow & María Irene Moyna (2009): A retrospective study of phonetic inventory complexity in acquisition of Spanish: Implications for phonological universals, Clinical Linguistics & Phonetics, 23:6, 446–472.
    • Kehoe, Margaret (2017): The development of rhotics: A comparison of monolingual and bilingual children. Bilingualism: Language and Cognition, 1–22.
    • Kulju, Pirjo und Savinainen-Makkonen,Tuula (2008): Normal and Disordered Phonological Acquisition in Finnish. In: Anu Klippi, Kaisa Launonen: Research in Logopedics: Speech and Language Therapy in Finland, 39.
  • zum alveolaren Trill: Laver, John (1994): Principles of Phonetics, 291; Zimmermann 1995: 275 (s.u.)
  • zur Bühnenaussprache (s.u.): Schrambke 2010: 54; Zimmermann 1995: 275.

Standarddeutsch

  • Penzl, Herbert (1961): Old High German and Its Phonetic Identification. In: Language, Vol. 37, No. 4 (Oct.-Dec., 1961), 488–496.
  • Runge, Richard M. (1973): The Phonetic Realization of Proto-Germanic /r/. In: Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung, 87. Bd., 2. H. (1973), 228–247.
  • Schrambke, Renate (2010): Realisierungen von /r/ im alemannischen Sprachraum. In: Dialectologia et Geolinguistica 18, 52–72.
  • Werlen, Iwar (1980): R im Schweizerdeutschen. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, 47. Jahrg., H. 1 (1980), 52–76.
  • Wiese, Richard (2003): The Unity and Variation of (german) /r/. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, Bd. 70, H. 1, 25–43.
  • Zimmermann, Gerhard (1995): Sprachwissenschaftliche Befunde zur r-Realisation im Deutschen und Englischen im Spiegel fiktionaler und biographischer Literatur. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, 62. Jahrg., H. 3 (1995), 270–290.

Schweizerdeutsch

  • Graf, Martin Hannes (2012): Thurgauer Mundart in Geschichte und Gegenwart. Sprachen und Kulturen; Heft 5. Bern: Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, 40–43.
  • Schrambke 2010
  • SDS: Baumgartner, Heinrich und Hotzenköcherle, Rudolf et al (1962-1997): Sprachatlas der Deutschen Schweiz. Francke: Bern.
  • Werlen 1980

Englisch

Nord- und Westeuropa

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