*h₁u̯eh₂-

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In dieser Wortreise geht es um Mangel, Leere und Abwesenheit. Alles beginnt mit der Wurzel *h₁u̯eh₂- ‚verlassen, aufgeben; ablassen, aufhören‘.

Lautung

Bei *h₁u̯eh₂- gibt es 3 erklärungsbedürftige Zeichen: Das Graphem *u̯ bezeichnet einen Halbvokal /w/ wie am Anfang von englisch what, nahe dem deutschen /v/ in was. h₁ und h₂ sind Laryngale – dazu ist zu sagen:

  • Im rekonstruierten Proto-Indogermanisch gibt es 3 Laryngale, h₁, h₂ und h₃ (Larynx=Kehlkopf).
  • Es ist nicht genau bekannt, wie sie geklungen haben – deshalb verwendet man die etwas exotische Notation –, aber es dürften Laute gewesen sein, die hinten im Rachen gesprochen wurden wie z.B. unser ch.
  • Laryngale sind in den indogermanischen Tochtersprachen (ausser im anatolischen Zweig) verschwunden, lassen aber Spuren zurück. Sie können den Vokal *e „umfärben“ oder in bestimmten Stellungen selbst zu Vokalen werden.

Somit war die Aussprache von *h₁u̯eh₂- wohl etwa Chwech, wenn unser Rekonstrukt nicht ganz daneben ist. Nach dem Ausfall der Laryngale haben wir noch *u̯ā, da *eh₂ zu langem ā wird (Umfärbung und Dehnung).

Das Verb: *h₁u̯eh₂-

*h₁u̯eh₂- wird als Verbwurzel rekonstruiert und hat direkte Nachfolger: vedisch vā́yati ’schwindet‘ und wahrscheinlich griechisch ἐάω eaō ‚lassen‘ (umgeformt).

Das Adjektiv: *h₁u̯eh₂–no-

Mit dem Suffix *-no- werden Adjektive gebildet – *h₁u̯eh₂-no- hiess wohl ‚mangelhaft‘.

Zur Vereinfachung steht hier die Vollstufe *h₁u̯eh₂-no-; das deutsche *wana geht auf die Nullstufe *h₁u̯h₂-no- zurück, ebenso ist bei Latein und Griechisch die genaue lautliche Entwicklung umstritten (evtl. durch Analogie entstanden); dies wird durch die gestrichelten Linien gekennzeichnet. Für Details siehe NIL 248ff.

Das Adjektiv wird nicht nur in der indischen (ved. *ūná) und griechischen (εὖνις eũnis ‚ermangelnd‘) Sprachfamilie fortgesetzt, sondern auch im Italischen und Germanischen:

Lateinisch vānus ‚leer, nichtig‘ und dessen Ableitungen (ē)vānēscō ‚verschwinden‘ und vānitās ‚Nichtigkeit‘ leben in den romanischen Sprachen fort sowie im Englischen: vanish, vanity, vain

Germanisch *wana ‚mangelnd, leer‘ hat einige Wörter hervorgebracht, die heute noch in Gebrauch sind:

  • die Verben *wanōjan ’schwinden‘, in engl. to wane fortgesetzt, sowie wahrscheinlich *wanatōn ‚mangeln‘, welches über die skandinavischen Sprachen zu englisch to want geworden ist (hier sind allerdings einige Unsicherheiten)
  • direkte Nachfolger sind altnordisch vanr und althochdeutsch wan; im schwedischen vanmakt ‚Ohnmacht‘ fungiert van- z.B. noch als Präfix, welches die Absenz bezeichnet; ebenso in dt. Wahnsinn – allerdings hat sich das Wort im Deutschen mit einem anderen „berührt“:
  • *vǣni ‚Hoffnung, Erwartung‘ führte zu ahd. wān (mit langem Vokal); dies wurde gleichlautend mit wan, als dieses gelängt wurde, weshalb die Wörter sich gegenseitig beeinflusst haben, so dass beim Wahnsinn also nicht nur die Leere, sondern auch der Wahn anklingt, und umgekehrt das Wort Wahn heute viel negativer besetzt ist als früher.

unsichere Ableitungen: *h₁u̯eh₂-sto, *h₁u̯eh₂-k-

Bei zwei weiteren Wortgruppen ist unsicher, ob sie zu *h₁u̯eh₂- gehören. Semantisch würden sie gut passen, doch es ist unklar, mit welchen Suffixen sie gebildet sind.

  • Eine Ableitung mit -sto- (*h₁u̯eh₂-sto-) könnte lat. vāstus und germ. *wōsti zugrunde liegen, die beide ‚öde wüst, leer‘ bedeuten; von *wōsti kommen wüst und die Wüste.
  • Eine Ableitung mit -k- (*h₁u̯eh₂-k-) ist sehr unsicher, eher handelt es sich um eine eigene Wurzel *u̯ak (die mit *h₁u̯eh₂- verwandt sein könnte, vgl. Fussnote bei Nussbaum 1998: 73f.), die lat. vacuus ‚leer‘ und damit dem Vakuum oder auch engl. vacation ‚Ferien‘ zugrunde liegt.

Quellen & Anmerkungen zur Skizze

  • LIV²
  • NIL
  • Stowasser
  • Gemoll
  • Kluge
  • OED.com
  • Brill Etymological Dictionaries: Proto-Germanic, Latin
  • Nussbaum 1998: *Two Studies in Greekand Homeric Linguistics*. 73–84.

Skizze:

  • gestrichelte Linien bezeichnen unsichere Abstammungslinien
  • Linien bezeichnen „direkte“ Fortsetzungen (mit regelmässigen lautlichen Veränderungen), Pfeile bezeichnen Ableitungen

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