sfortuna, sconosciuto, sfigati

Gründe, Italienisch zu lernen, gibt es viele: Pizza, pasta, parmigiana für kulinarisch Interessierte, Azzurro, bella ciao, Laura non c’è für Musikbegeisterte, Eco, Ferrante, Guareschi für Leseratten oder in meinem Fall sole cuore amore (e grammatica).

Der Einstieg gestaltet sich für den romanisch Versierten nicht allzu schwer. Ciao paparazzi, antipasti Milano, non c’è problema. Als Linguist weiss ich zwar, dass Sprachen unter der Oberfläche gern Unerwartetes bereithalten, bin aber doch jedes Mal überrascht, wenn ich darauf stosse – hallo schwedische Retroflexe und Töne, hallo präpositionaler Akkusativ im Spanischen und hallo deutsche Absurditäten wie starke/schwache Deklination oder drei Genus (beide ziemlich extravangant weil hohe Komplexität bei wenig Nutzen).

Ich lerne also so vor mich hin – Siamo il gatto rapanelli, zucchetti Lamborghini, che sfortuna! – Aber halt, was ist mit diesem s-? War das nicht auch bei s-conosciuto? Und s-postare. Und s-mettere. Und s-brigare, s-gattolare, s-vantaggio, s-parecchiare, s-figati… Was läuft da?

Vorsichtige Annäherung

Also tut der Linguist, was er gelernt hat: Thesen bilden.

Nehmen wir s-vantaggio ‚Nachteil‘, offensichtlich zu vantaggio ‚Vorteil‘. These: Verneinung. Dazu passen z.B. auch s-conosciuto ‚unbekannt‘, s-fortunatamente ‚unglücklicherweise, leider‘, s-piacevole ‚unangenehm‘ oder s-bloccare ‚ent-blockieren‘.

Dann sind da allerdings auch:

  • spostare ‚verrücken‘, nicht das Gegenteil von postare ‚aufstellen‘
  • sbattere ‚draufschlagen‘, nicht das Gegenteil von battere ’schlagen‘
  • svendere ‚verhökern, verramschen‘, nicht das Gegenteil von vendere ‚verkaufen‘

Modifizierte These: Verneinung, aber auch etwas mit Bewegung, vielleicht? Könnte dazu auch sgattolare passen (’sich anschleichen‘, zu gatto ‚Katze‘)? Und was ist mit den sfigati, den ‚Gearschten‘, abgeleitet von der weiblichen Scham? Und  sporcare ‚versauen‘ zu porco ‚Schwein‘?

Immer schwammigere These: Präfix, das irgendwie Dinge modifiziert und manchmal ins Gegenteil verkehrt. Irgendwo muss ein Scharnier sein, auf das die unterschiedlichen Bedeutungen zurückgehen. Vielleicht kausativ oder sowas? Oder das Präfix ist semantisch so gedehnt worden, dass es neben der Negation zu einem allumfassenden Restbehälter geworden ist? (Ein Omnativpräfix!?)

Der Sache auf den Grund gehen

Jetzt will ich’s wissen. Einerseits die genaue Bedeutung. Und andererseits, wie sie historisch zustande kam, denn als Linguist, der etwas auf sich hält, hat man schliesslich ein bisschen verrostetes Latein im Köcher, das man wieder einmal rausnehmen will.

Die analytische Rigeur wird bereitgestellt, ein Plan gefasst: Zuerst die These geradebürsten, dann Material sammeln und sie daran ausprobieren. Etwas mehr als ein paar zufällig angeschwemmte Wörter sollten’s schon sein, um ein theoretisches Gerüst zu errichten.

Feststellung 1: Das Präfix s- hat verschiedene Bedeutungen. Mögliche Gründe:

  • Die Bedeutungen gehen auf einen gemeinsamen Vorgänger zurück, haben sich aber auseinanderentwickelt.
  • Es gibt verschiedene Vorgänger, die sich vielleicht teilweise überlagern.

Feststellung 2: s- könnte auf verschiedene lateinische Präfixe zurückgehen:

  • dis-auseinander, rückgängig, (zer-, ent-)‘ wie in lat. dis-cēdō ‚auseinandergehen‘ (zu cēdō ’schreiten‘)
  • ex- ‚hinaus‘ wie in ex-eō ‚hinausgehen‘ (zu ‚gehen‘), aber auch verstärkend wie in ex-acerbō ‚hart treffen‘ (zu acerbō ‚verschlimmern‘) und ausschliessend wie in ex-animo ‚ent-seelt‘ (zu anima ‚Atem, Geist‘)

Mutmassung: Aus dem Zusammenspiel von möglichen Laut- und Bedeutungsentwicklungen ergeben sich verschiedene Möglichkeiten. Wenn ital. s- auf einen einzigen lat. Vorgänger zurückgeht, würde ich auf das „Allerweltspräfix“ ex- tippen, das von verstärkend bis ausschliessend eine Menge Bedeutungen abdeckt. Die Frage ist dann, ob sich so alle italienischen Bildungen und ihre Bedeutungen daraus erklären lassen. Ist z.B. s-vendere ‚verhökern, verramschen‘ anschliessbar? Verstärkend würde passen. Und s-fortuna wäre vielleicht erklärbar als Ent-Glück…?

Zweifel kommen auf: Ein Verb wie s-bloccare oder s-chiudere, das schreit doch förmlich dis-bloccare und dis-clūdere. Die Zweifel am Zweifel melden: Aber spiegare kommt doch von ex-plicāre!? Also doch ex-?

Die Auflösung

Wäre ich, wie ich es bis hierhin vorgegeben habe, der erste, der sich um eine Erklärung des italienischen s-Präfixes bemüht, würde ich nun möglichst viel Wortmaterial heranschaffen, dieses in Gruppen einteilen und nach einer in sich stimmigen Theorie suchen, die ich dann am Material durchexerzieren würde.

Da dem aber nicht so ist, greife ich auf die Arbeit anderer zurück.

In dieser Sache verdient gemacht hat sich Hans Marchand. Seine Abhandlung zum Thema* widmet er zuerst dem ausführlichen Tadeln früherer Erklärungsansätze (wie sich das gehört für einen Wissenschaftler mit gesundem Selbstbewusstsein), um dann seine These darzulegen: Das italienische Präfix s- geht auf zwei verschiedene Präfixe zurück – lat. dis- und lat. ex-.

  • Von dis- kommt die Bedeutung ‚zer-, ent-‚ (Disintegration, Zerstörung, Zunichtewerden). Es wurde auch zur Verneinung benutzt, heute allerdings nicht mehr aktiv (ausser in Partizipien analog s-conosciuto).
  • Von ex- stammt ein Strauss von nicht ganz einfach fassbaren Bedeutungen. Die konkrete Bedeutung im Latein war ‚hinaus, weg‘ (Bewegung weg von einem Ort: ex-eō ‚verlassen‘ oder aus einem Zustand: ē-rudiō ‚lehren‘ zu rudis ‚roh‘), davon übriggeblieben ist eine abstrakte Bedeutung von Expressivität, Emotionalität, Verstärkung (Vermittelt wurde diese Bedeutungsverschiebung etwa so: Bewegung weg von einem Zustand – Vollendung einer Bewegung – sichtbares, konkretes Resultat – Intensität des Konkreten).

Entwicklung von lat. *dis- und *ex- zu ital. *s-

Die zwei Präfixe weisen jeweils ihre eigenen lautlichen Einschränkungen auf:

  • Das reversativ-privative s- (< lat. dis-) hat eine lautliche Variante dis-, welches vor Vokalen zum Einsatz kommt – ‚entwaffnen‘ heisst dis-armare, nicht s-armare.
  • Das intensive s- (< lat. ex-) kann indes nur vor Konsonanten stehen.

Ausserdem gibt es einen Unterschied beim typischen Einsatzgebiet: Als Reversativum/Privativum sei das Präfix standardsprachlich; als Intensivum gehöre es eher in die gesprochene Sprache und transportiere Emotionalität. Dies wird ersichtlich bei Verben auf -zzare/-cchiare wie sbaciucchiare ‚abküssen‘ (zu bacio ‚Kuss), aber auch bei sbattere ‚um sich schlagen, (z.B. eine Tür) zuschlagen‘ (zu battere ’schlagen‘, neutral).

Das Intensivum kann also nicht generell einem umgangssprachlichen Register zugeordnet werden (wie auch eine zusätzliche Erörterung mit dem Lieblingsmuttersprachler ergeben hat) – zutreffender ist wohl die umgekehrte Formulierung: Das Reversativum/Privativum ist immer neutral, das Intensivum kann hingegen umgangssprachlich sein.

Wir fassen zusammen

Auf das reversativ-privative s- aus lat. dis- geht die Bedeutung ‚zer-, ent-‚ zurück. Früher konnte es allgemein zur Verneinung (‚un-‚) verwendet werden (sleale, spiacevole), heute nur noch bei Partizipien (sconosciuto). Das intensive s- aus lat. ex- steuert Bedeutungen bei, die um Expressivität, Emotionalität und Verstärkung kreisen.

Mit Reversativum/Privativum gebildete Wörter gehören generell der Standardsprache an. Auch das Intensivum hat vieles zum Standardwortschatz beigertragen, es ist allerdings gerade in der gesprochenen Sprache recht produktiv und kann auch andere Register bedienen (Umgangssprache, Emotionalität).

reversativ-privatives s- intensives s-
s- vor Konsonant, dis- vor Vokal s- vor Konsonant, nicht möglich vor Vokal;
insbes. mit Verben auf -zzare/cchiare
< lat. dis- < lat. ex-
zer-, ent-; un- (Disintegration, Zerstörung, Zunichtewerden; Verneinung) früher: Bewegung weg von, Vollendung
heute: Expressivität, Emotionalität, Verstärkung
standardsprachlich, neutral In Registern von standardsprachlich über gesprochen bis umgangssprachlich auzutreffen
produktiv als Reversativum/Privativum (zer-, ent-), nur bei Partizipien als Negation (un-) produktiv, insbes. in emotionaler, gesprochener Sprache
  • sterrare ‚ausgraben‘, sfornare ‚aus dem Ofen nehmen‘
  • svestire ‚entkleiden‘, sbloccare ‚entsperren, lösen‘, spolverare ‚Staub wischen, entstauben‘, schiudere ‚öffnen, aufschliessen‘
  • sbriciolare ‚zerbröseln‘ (zu briciole ‚Krümel‘)
  • spiacevole ‚unerfreulich‘, sfatto ‚ungemacht‘, sconosciuto ‚unbekannt‘
  • smettere ‚aufhören‘
  • Straffico ist der Name einer NGO, auf Deutsch ‚umverkehR‘
  • spostare ‚verschieben‘ (zu posto ‚Ort‘)
Bewegung weg von, Vollendung:

  • spiegare ‚erklären‘ (< lat. ex-plicāre, wörtlich ‚entfalten‘, ex- noch in der Bedeutung ‚weg von‘)
  • scorso ‚vergangen‘ (< lat. ex-cursus, zeigt die Bedeutungsverschiebung von ‚hinausgegangen‘ (Bewegung) zu ‚abgeschlossen‘ (Vollendung))
  • spianare ‚planieren‘ (< lat. ex-plānāre, Vollendung)

Expressivität, Emotion, umgangssprachlich:

  • svendere ‚verhökern, verramschen‘
  • sbaciucchiare ‚abküssen‘
  • sfigati ‚Verarschte‘, porta sfiga ‚bringt Unglück‘

Was wie ein Präfix aussieht (auch für Muttersprachler*innen), entpuppt sich also als zwei trotz lautlichem Zusammenfall immer noch recht gut unterscheidbare Suffixe. Und auch mit einem zuvor genannten Verb verhält es sich etwas anders: Sporcare ‚verschmutzen‘ ist der Herkunft nach nicht ‚versauen‘ – es kommt von lat. spurcus ’schmutzig‘.

* Marchand, Hans: The Question of Derivative Relevancy and the Prefix s- in Italian, Studia Linguistica 7, 1953, 104-114. Auch in: Marchand, Studies in Syntax and Word(-)formation, 1974, 159-171.

One Comment

  1. Barbara

    Vielen Dank für diesen tollen Artikel! Seit ich Italienisch lerne frage ich mich, warum das „s“ unterschiedliche Bedeutungen hat. Zuerst hatte ich gehofft, es würde immer das Gegenteil bedeuten… leider war das Gegenteil der Fall 😉

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