Das Wort Wort hat mehrere Plural-Varianten: Es bildet den Plural Wörter, wenn von deren Bedeutung im Vergleich zueinander die Rede ist (Diese Wörter meinen dasselbe.), aneinandergereihte Einheiten einer Äusserung werden hingegen als Worte bezeichnet (Das sind doch nur schöne Worte!).
Schwieriger wird’s beim Hanswurst: Ein Hanswurst, zwei… Hanswurste? Bewaffnet mit Armbrüsten oder Armbrusten?
Wracks oder Wracke? Pizzas oder Pizzen?
Strategien: Endung ran, einfach lassen, Vokale tauschen
Im Deutschen gibt es verschiedene Strategien, um zu markieren, dass wir von mehreren Einheiten sprechen (Linguistik-Sprech: das Substantiv steht im Plural). Eine mögliche Strategie ist, eine Endung anzufügen:
- -n/-en: z.B. Nonnen, Bauern, Tannen, Zeitungen
- -e: z.B. Tische, Hunde, Tage
- -er: z.B. Kinder, Bilder
- -s: z.B. Omas, Autos, Kameras
Eine weitere Strategie ist die Nullmarkierung: Der Plural wird nicht gekennzeichnet, sieht also aus wie der Singular – ein/viele Mädchen-Ø, ein/zwei Löffel, ein/viele Zimmer, ein/mehrere Kabel, das/die Fenster.
Und schliesslich gibt es den Umlaut: Hut – Hüte, Grab – Gräber, Haus – Häuser, Vogel –Vögel.
Mädchens, Omaen und Tischer
Doch warum heisst es nicht Mädchens, Omaen und Tischer, wenn dies alles Möglichkeiten sind, Plurale zu bilden?
Jedem Substantiv ist eine Bildungsart zugeordnet, ist man versucht zu erklären. Und: Das Genus („Geschlecht“) spielt eine Rolle, ebenso der Auslaut. Sie können auch kombiniert werden, würde man wohl anfügen: Häuser hat einen Umlaut (äu) und eine Endung (-er).
Aber auch wenn man noch tiefer in die Grammatik eintaucht, kann nicht für jedes Wort mit einer Regel vorausgesagt werden, welche Pluralbildung dazu gehört. Es gibt sogar Substantive, die sich „nicht entschieden haben“, beziehungsweise gleich mehrere mögliche Formen besitzen, zum Beispiel:
- Wörter/Worte
- Mütter/Muttern
- Bänder/Bande
- Armbrust/Armbrüste/Armbruste
- Wracks/Wracke
- Hanswurst/Hanswurste
- Bogen/Bögen
- Bunde/Bünde
Die richtige Pluralform ist also nicht „naturgegeben“. In der Sprachgeschichte kam und kommt es immer wieder vor, dass mehrere Formen in Konkurrenz standen oder stehen. In einigen Fällen hat sich bereits eine durchgesetzt, in anderen Fällen (noch) keine (z.B. Bösewichte/Bösewichter) und manchmal haben sich zwei Formen gehalten und in der Bedeutung ausdifferenziert – neben Worten/Wörtern zum Beispiel:
- Bälge ‚Tierhäute‘, Bälger ‚Kinder‘
- Männer ‚Plural ohne Konnotation‘, Mannen ‚Gefolgsleute, oft scherzhaft im Kontext Sport‘ (in Schweizer Dialekten ist aber Manne die unkonnotierte Form)
- Mütter ‚weiblicher Elternteil‘, Muttern ‚Eisenteil, in das eine Schraube gedreht werden kann‘
Bei Lehnwörtern, die noch „auf der Schwelle stehen“, also nicht total integriert sind, ist das Tauziehen um die „richtige“ Pluralform schön zu sehen – wie heissen zum Beispiel die Plurale zu den folgenden Substantiven?
Bonus
Sozius
Konto
Aroma
Pizza
Wir fassen zusammen: Jedem Substantiv ist eine Pluralbildung – oder mehrere – zugeordnet. Die Einteilung wird durch „Leitplanken“ geregelt, ist jedoch weniger starr, als man vielleicht denken würde.
Damit kommen die Dialekte ins Spiel, in diesem Fall die Schweizer Dialekte.
Pluralbildung im Schweizerdeutschen
Im Dialekt können sich die Regeln, die sich herausgebildet haben, von den Regeln der Standardsprache unterscheiden.
So weist das Schweizerdeutsche Plurale mit Umlaut auf, die in der Standardsprache nicht benutzt werden. Hier meine über einige Jahre zusammengetragene Liste von Pluralbildungen mit vom Standarddeutschen abweichendem Umlaut, die ich selbst verwenden würde oder zumindest so gehört habe.
Schweizerdeutsche Pluralbildungen mit vom Standarddeutschen abweichendem Umlaut
- Aal – Ääl
- Akkord – Akkörd
- Akt – Äkt
- Album – Albüm(er)
- Apparat – Apparät
- Arm – Ärm
- Bagger – Bagger/?Bägger
- Balkon – Balkön
- Ballon – Ballön
- Boge ‚Bogen‘ – Böge
- Boot – Bööter
- Brot – Brot/?Bröter
- Bruef – Brüef
- Bunker – Bunker/?Bünker
- Bus – Büs
- Butter – Butter/?Bütter
- Chnoche – Chnöche
- Chnolle – Chnölle/Chnolle
- Chueche – Chüeche
- Club – Clüb/Clübs
- Gloon ‚Clown‘ – Glöön
- Gurt – Gürt
- Diskurs – Diskürs
- Dunstig – Dünstig
- Hahne ‚Wasserhahn‘ – Hähne
- Halt – ?Hält
- Harass – Haräss
- Hase – Häse
- Hode ‚Hoden‘ – Höde
- Hund – Hünd
- Hoogge ‚Haken‘ – Hoogge/Höögge
- Hopfe – Höpfe
- Hort – Hört
- Huuffe ‚Haufen‘ – Hüüffe
- Huushalt – Huushält
- Impuls – Impüls
- Inhalt – Inhält
- Job – Jobs/Jöb/Jöbs
- Kanton – Kantön
- Katalog – Katalög
- Kebap – ?Kebäpper
- Klub – Klüb
- Koffer– Koffer/Köffer
- Kommentar – Kommentär
- Kondom – ?Kondömer
- Kontakt – Kontäkt
- Kontrast – Konträst
- Kormoran – Kormorän
- Korridor – Korridör
- Kurs – Kürs (ebenfalls: Exkürs)
- Lauch – Läuch
- Luchs – Lüchs
- Lumpe – Lümpe
- Marathon – Marathön
- Match – Mätch
- Mittwuch – Mittwüch
- Mond – Mönd
- Monet – Mönet
- Mord – Mörd
- Morge – Mörge
- Name – Näme
- Oobig – Ööbig
- Onkel – ?Önkel
- Ordner – Ördner
- Ort – Ört
- Park – Pärk
- Pfad – Pfäd
- Pfarrer – Pfärrer
- Pfoste – Pföste
- Psychiater – Psychiäter
- Pokemon – Pokemöner
- Punkt – Pünkt
- Roman – Romän
- Rutsch – ?Rütsch
- Saloot – Salööt
- Schaal – ?Schääl
- Schatte – Schatte/Schätte
- Schoof – Schööf
- Schue – Schue/?Schüe
- Skandal – Skandäl
- Socke – Socke/Söcke
- Soome – ?Sööme/Soome
- Stoff – Stöff
- Summer – Sümmer
- Sunntig – Sünntig
- Tag – Tääg
- Tank – Tänk
- Transport – Transpört
- Tropfe – Tröpfe/Tropfe
- Trottel – Trottel/Tröttel
- Tubel – Tübel (zur Herkunft: tüppig, taub und dumm)
- Tuume ‚Daumen‘ – Tüüme
- Ufenthalt ‚Aufenthalt‘ – Ufenthält
- Ultraschall – Ultraschäll
- Uuspuff ‚Auspuff‘ – Uuspüff
- Uusruef – Uusrüef
- Verbund – Verbünd
- Verlag – Verläg
- Verlust – Verlüst
- Versuech – Versüech
- Vokal – Vokäl
- Vulkan – Vulkän
- Wage ‚Wagen‘ – Wäge
- Zapfe – Zäpfe
- Zoo – ?Zöö
Erklärungsansätze
1. Analogie – das „Anlehn-Prinzip“
Phänomene wie Pokemöner geben immer auch Hinweise aufs System, das hinter den „drolligen schweizerdeutschen Pluralen“ steht. So habe ich zum Beispiel schon die Form Häräss gehört (‚Harasse‘). Sie fällt zwar auch in die Kategorie „irgendwas stimmt hier nicht“, aber dass sie überhaupt jemandem über die Zunge kommt, zeigt, wie produktiv der Plural-Umlaut ist. Er wird auf neue Wörter übertragen, probeweise verwendet und setzt sich vielleicht irgendwann durch.
Im Standarddeutschen ist der Umlaut-Plural Wörtern vorbehalten, die schon lange Teil der Sprache sind – Mütter, Wörter, Männer. Umlaut ist auf lautlicher Ebene erklärbar: Er ist eben das – ein Umlaut. Die Umlautung u > ü, o > ö, a > ä geschah wegen des nachfolgenden Vokals, der damals ein -i- war (heute -e- geschriebenes Schwa).
Analogische Umlaute sind dagegen auf funktionaler Ebene zu erklären: Die Paare u:ü, o:ö, a:ä wurden als zusammengehörige Singular- und Plural-Alternation erkannt und in der Folge gezielt so eingesetzt. Dies auch bei neueren Erscheinungen wie Büs, Ultraschäll, Psychiäter, Uuspüff und offensichtlichen Lehnwörtern wie Implüls, Diskürs und Kommentär.
Dabei bewegt sich die Verwendung aber innerhalb klarer Grenzen, die das Sprachsystem vorgibt: Die Liste beinhaltet kein feminines Substantiv und nur wenige Neutra – die meisten analogisch hinzugekommenen Umlaut-Plurale sind Maskulina. Umlaut kennzeichnet nämlich vor allem Plurale maskuliner Substantive – Diese Gemeinsamkeit erleichtert die Analogie (die Funktionsweise von Analogie ist z.B. auch bei Kurzverben im Konjunktiv zu sehen).
2. Nullmarkierung wird „repariert“
Auffallend ist, dass Umlaute meist als einzige Pluralmarkierung fungieren – wenn bei Pünkt kein Umlaut ist, sieht der Plural genau wie der Singular aus (Punkt). Dies hat damit zu tun, dass -e am Wortende oft weggefallen ist (vgl. standarddt. ein Punkt – zwei Punkte). Der Umlaut-Plural kann in diesen Fällen in die Bresche springen, um eine Nullmarkierung zu verhindern – dass der Plural vom Singular abweicht, scheint erstrebenswert zu sein.
Dazu passt auch, dass in den Dialekten, die im Plural ein -e haben, bei denselben Wörtern oft kein Umlaut steht – in Bern spricht man eher von Orte statt Ört oder Tage statt Tääg. Mein Eindruck ist denn auch, dass die Pluralbildung mit Umlaut in der Ostschweiz häufiger ist.
3. Steilvorlage für Sprachspiele
Die humoristische und (halb)ironische Verwendung exotischer Plurale ist verbreitet: Bildungen wie Kebäpper oder Pokemöner sind zwar im Bereich des Möglichen, aber zu viel des Guten. Sie werden von den meisten ZuhörerInnen abgelehnt oder als nicht ernst abgetan. Solche Grenzen auszuloten gehört zu den Freuden der SprecherInnen, um eine Reaktion bei den Zuhörenden hervorzurufen (man denke an Bildungen wie ich schrob).
Plus pluralibus
Dies war nur ein Ausschnitt dessen, was mit Pluralen im Schweizerdeutschen passiert und was dies übers Sprachsystem aussagt. Mehr Plüräl, mehr Bildungsweisen (-ene bei Feminina!) und mehr sprachgeschichtlichen Hintergrund gibt’s in der Schnabelweid zum Thema „Pluralitis“ (der Beitrag dauert 20 Minuten, also nicht die ganze Sendung).
Wie sieht es bei „Gurt“ aus? „Gürt“? (Schweizerdeutsch)
Würde ich wohl auch mit Umlaut sagen (so auch im Idiotikon) – hingegen standarddeutsch „Gurte(n)“, also auch analogisch. Hab’s gleich aufgenommen, merci!
Kürzlich hörte ich einen Betrag, wo es um Themen und Banken ging. Der Beitrag wurde in Mundart ausgestrahlt und da war die Sprache von „Themene“ und „Banke“ – warum nicht „Bankene“?
Ja, die Ausbreitung von -ene ist mir auch schon aufgefallen. kann gut sein, dass die Motivation dieselbe ist wie beim analogischen Umlaut: Singular und Plural klingen gleich, also kennzeichnet man den Plural irgendwie, um ihn vom Singular abzuheben. Das erklärt Themene genaugenommen zwar nicht, weil es Thema ~ zwei Theme ja nicht gleichlautend sind… Aber halt doch recht nahe. Meine These wäre, dass wir gern ein zusätzliches -ene anhängen, wenn wir den Plural extra deutlich kennzeichnen wollen (gerade im Rundfunk ist Deutlichkeit ja wichtig).
Ei Bank ~ zwei Banke scheint hingegen genug unterschiedlich, dass Bankene wenn nicht falsch, so doch eher gspässig klingt (jedenfalls nach meinem Empfinden).
Für eine genauere Untersuchung müsste man sich die Deklinationsklassen und Genus noch genauer anschauen; Bank lautet z.B. anders als die meisten Feminina auf Konsonant aus. Ursprünglich kommt die Endung -ene von Feminina auf -i wie Chuchi (SRF).
Was du über die Pluralbildung verglichen mit Bern und der Ostschweiz sagtest, hier will ich etwas anmerken, was du vielleicht auch schon weisst: Den Berner Dialekt zeichnet es ohnehin aus, dass er die E-Laute an den Wortendungen bewahrt:
e Wäg, e Tisch, e Stäi – zwe Wäge, zwe Tische, zwe Stäine
Das ist eine Besonderheit, denn die Vielzahl der Dialekte hat an dieser Stelle eine Nullendung angenommen. So auch in meinem heimischen Ostschweizer Dialekt:
en Wäg, en Tisch, en Stei – zwei Wäg, zwei Tisch, zwei Stei
bin zwar Schweizerin, aber hab immer noch ein Problem mit dem Plural von „Wuche“ – bleibt er „Wuche“ oder wird er zu „Wuchene“?
Wenn mir jemand sagt, er sei „die erscht Märzwuche“ weg, dann ist das für mich die erste Woche im März, für die andere Person hiess es aber, dass er die ersten Wochen, also die ersten zwei Wochen, weg ist.
Gibt es da Regeln?
Die ursprüngliche Regel war gleichlautender Plural: ei Wuche, zwei Wuche. Die Regeln im Detail runterrattern ginge zu lange, oft hilft aber ein Blick ins Idiotikon.
Grundsätzlich sind gleichlautende Plurale nichts Unerhörtes: ein/zwei Brunnen, ein/zwei Mädchen, ein/zwei Fenster. Aus dem Kontext wird meist klar, ob Singular oder Plural gemeint ist: schönes Fenster! ≠ schöne Fenster!
Aber unter Umständen ist das nicht eindeutig genug, wie du beschreibst (mehrere Wochen müssten meines Erachtens zwar di erste Wuche heissen, aber der lautliche Unterschied ist da natürlich gering und leicht zu überhören). Deshalb sind gleichlautende Plurale anfällig für „Reparaturen“ (siehe oben unter Nullmarkierung):
Eine Schweizer Freundin schrieb neulich von „Tänke“, die sie zu entsorgen habe. Gemeint waren Betonbottiche bzw. der Plural von „Tank“. War das nur ein Tippfehler oder gibt es diese Pluralform bei den deutschsprachigen Schweizern im Raum Bern wirklich?
Ha, noch einer! 😊 Für Bern kann ich nicht sprechen, aber ich würde in meinem (Ostschweizer) Dialekt wohl auch von zwei Tänk sprechen. Und ich kann mir auch vorstellen, dass meinen Fingern auf Standarddeutsch eher Tänke statt Tanks tippen würden…