Eben in der Bäckerei erwarb ich e chliises St. Galler-Brot – und beim Verlassen des Geschäfts hing mir die Form noch in den Ohren: e chlises?
Zuerst e chlises Usflügli in die Grammatik. Im Deutschen unterscheidet sich die Form eines Adjektivs je nach Verwendung: Prädikativ (Das Brot ist klein.) und adverbial verwendete Adjektive (Er rennt schnell) stehen immer in der Grundform (klein, schnell); Adjektive in attributiver Stellung (also vor einem Substantiv) werden nach relativ komplizierten Regeln dekliniert, wie ich bereits einmal erörtert habe:
Spielen wir das am Adjektiv klein durch, sieht es fürs Standarddeutsche so aus:
gemischte Deklination (mit unbestimmtem Artikel) | schwache Deklination (mit bestimmtem Artikel) | |
---|---|---|
m | ein kleiner Hügel | der kleine Hügel |
f | eine kleine Frage | die kleine Frage |
n | ein kleines Brot | das kleine Brot |
Pl. | keine kleinen Kinder | die kleinen Kinder |
Die Beugung ist regelmässig: Die Endungen werden jeweils angehängt, die Grundform klein bleibt.
Anders im Schweizerdeutschen: Die Grundform von klein wurde zu chlii gekürzt (was an die Kürzung häufiger Verben erinnert – Häufiges wird eher unregelmässig gekürzt): Die Wohnig isch chlii, sogar d Fenster sind chlii. (prädikativ) – Aber wenn chlii vor einem Substantiv steht und nach Flexionsendungen verlangt, sagen wir nicht en chlii-e Hügel, sondern en chliine Hügel. Das -n tritt also in diesen Formen wieder hinzu (bzw. wurde nie weggekürzt), so dass sich zwei Stämme (mit und ohne -n) gegenüberstehen:
gemischte Deklination (mit unbestimmtem Artikel) | schwache Deklination (mit bestimmtem Artikel) | |
---|---|---|
m | en chliine Hügel | de chlii(ne) Hügel |
f | e chliini Froog | di chlii(ne) Froog |
n | e chliis(es) Brot | es chlii(ne) Brot |
Pl. | kei chliini Chind | di chliine Chind |
Die Formen variieren je nach Dialekt, können aber auch innerhalb eines Dialekts verschiedene Formen aufweisen. So z.B. im Plural: Ich kann de chlii Hügel sagen, aber auch de chliine Hügel. Die gekürzte „Grundform“ chlii zeigt sich also in der schwachen Deklination des Adjektivs (die auf den bestimmten Artikel folgt).
E chliises Brot, e chliises Träumli, e chlises bizeli
Nach dieser langen Vorrede jetzt also zu e chliises Brot – es fällt aus dem Rahmen, da die anderen Formen der gemischten Deklination mit -n- gebildet werden. Die Endung des Neutrums (-(e)s) ist allerdings auch die einzige mit einem Konsonanten (m. -e, f. -i, Pl. -i). So ist e chlii-i Froog nicht möglich, e chlii-s Brot aber schon.
Die Form e chliises Brot schliesslich muss aus e chliis Brot entstanden sein, indem die Endung ein zweites Mal angehängt wurde. Die auf zwei Silben erweiterte Form ist gegenüber der einsilbigen deutlicher: In einem Gespräch, in dem am Rande ein kleines Brot vorkommt, würde ich eher e chlis Brot sagen; wenn ich aber betonen will, dass ich ein kleines Brot möchte und nicht ein grosses, mache ich von der Möglichkeit Gebrauch, das Adjektiv auf zwei Silben auszuwalzen, um der Information mehr Gewicht zu geben: Ich hett gern e chlises St. Galler-Brot.
Die Form e chliises ist übrigens auch im Lied Es isch jo nu e chlises Träumli gsi zu hören (wer es sich antun will, wird fündig auf YouTube). Hier hat die längere Form den zusätzlichen Nutzen, dass sie besser in den Rhythmus passt. Eine weitere Motivation für die Verwendung der Form chlises scheint zu sein, dass sie als verniedlichend empfunden wird (es chlises bitzeli, es chlises Problemli), und sich demnach gut für Kinderlieder oder zur Abtönung eignet.