Kurzverben (10): Fazit

Wir haben Verben gebaut, ihre Häufigkeiten betrachtet, die Merkmale von Kurz- und Modalverben untersucht mit dem morphologischen und dialektologischen Blick, die vielfältigen Konjunktivformen auseinandergenommen und die Verbverdopplung angeschaut. Das alles hat mit Kurzverben zu tun.

Der Kern der Kurzverben ist schnell erklärt: Es gibt im Standarddeutschen, in grösserer Zahl aber im Schweizerdeutschen einige Verben, die auch im Präsens Plural einsilbig sind, z.B. wir tun oder ihr lönd ‚ihr lasst‘. Genau ist das in Teil 4 beschrieben, wo am Ende folgende Grafik herausfiel:

Grafik 1: Kurzverben im Schweizerdeutschen

Möchte man verstehen, warum im Plural ein ö steht, muss man sich den Modalverben zuwenden, bei denen die Kurzverben den Pluralumlaut abgeschaut haben (Teil 5). Da könnte der Einwand folgen, dass das gar nicht für alle Dialekte der Fall ist. Damit sind wir mitten in der Dialektologie (Teil 6).

Und wo wir schon einmal dabei sind, möchten wir auch gern verstehen, was bei den Konjunktiven los ist – Der Konjunktiv I hat abenteuerliche Formen wie er seit, er lös ‚er sagt, er lasse‘ (Teil 7), und im Konjunktiv II scheint auch einiges durchmischt worden sein: er chiem ‚er käme‘ hat nicht den erwarteten Vokal (ä), sie liessti ’sie liesse‘ ein „artfremdes“ -t- (Teil 8).

Dann war da noch die Sache mit mir gönd go poschte ‚wir gehen einkaufen‘ und la mi la sii ‚lass mich sein‘, wo gewisse Kurzverben „verdoppelt“ werden – ein kleiner Ausflug in die Syntax bietet sich an (Teil 9).

Warum Kurzverben?

Aber warum bilden gerade diese Verben spezielle Formen in verschiedenen Kategorien – Infinitiv, Präsens, Konjunktiv I – und sind darüber hinaus auch noch an Verbverdopplungen beteiligt?

Hier kommen Morphologietheorie (Teil 2) und Frequenz (Teil 3) ins Spiel: Die Sprache muss organisiert werden. Nicht alles kann kurz sein. Aber es ist praktisch, wenn häufig verwendete Formen kurz sind. Dafür wird auch etwas Unregelmässigkeit in Kauf genommen – und wenn ein paar häufig verwendete Verben sich in ihren Unregelmässigkeiten angleichen, haben wir „das beste aus zwei Welten“.

Häufige Verben wurden also frisch-fröhlich gekürzt und einander angeglichen (siehe Pluralumlaut, Konjunktiv I). Die Kurzverbgruppe war geboren:

Grafik 2: Kurzverben und Verben im Umkreis mit Zuordnung zu Frequenz oder phonologischer Prädisposition als Eintrittsmöglichkeit

Warum genau diese Verben sich im Schweizerdeutschen genau so entwickelt haben (und im Standarddeutschen nicht), ist nicht trivial zu beantworten. Verbalsysteme sind sehr komplex und es sind verschiedene Arten der Balance möglich – dies zeigen auch die schweizerdeutschen Dialekte. Frequenz, Kürzung, Irregularisierung, Lautwandel und Analogie arbeiten alle mit ihrer eigenen Logik in und an diesem System und eröffnen Wege, welche weiter verfolgt werden können oder nicht.

Vier Faktoren sind an der Entwicklung beteiligt:

  • Lautstand: ein -h- ist schnell mal weggekürzt, ein -ck- ist schwerer zu beseitigen.
  • Frequenz: Wenn eine Form genug häufig ist, kann sie grössere Hürden überwinden.
  • Flexionsklassen: Findet sich eine Gruppe von Verben zusammen, stabilisieren sie gegenseitig ihre „Seltsamkeiten“.
  • Zeit: Alle diese Veränderungen brauchen Zeit, um sich durchzusetzen. Das zeigt sich daran, dass gleichzeitig in einigen Regionen noch „alte“ Systeme herrschen, während in anderen schon neue massgeblich sind.

Das Zusammenspiel dieser Faktoren demonstrieren Grenzfälle, die einige Kriterien erfüllen, andere aber nicht: Verben wie mähen, blühen oder säen sind lautlich prädestiniert für eine Eingliederung bei den Kurzverben, aber sie sind nicht sehr häufig – die schweizerdeutschen Dialekte lösen das verschieden, so ist einsilbiges sie blüend mit Kurzverbendung als auch zweisilbiges sie blüejed zu hören.

Die Verben machen und sagen sind zwar sehr häufig, aber lautlich schwer zu kürzen. Ein Durchbruch ist mir möched mit Pluralumlaut. Im Norwegischen ist sagen zum Kurzverb geworden (si), im Schwedischen wie im Deutschen nicht (säga). Im Schwäbischen existiert vom Verb tragen eine Kurzform tra, ebenso im Schwedischen (dra mit der Bedeutung ‚ziehen‘).

Weiterlesen

Wer noch nicht genug hat, findet in den folgenden Büchern und Artikeln detailliertere Diskussionen zu den jeweiligen Themen. Falls jemand an meiner Masterarbeit interessiert ist, möge man mich kontaktieren.

Morphologie

  • Nübling, Damaris (2000): Prinzipien der Irregularisierung. Tübingen: Niemeyer.
  • Werner, Otmar (1987a): The aim of morphological change is a good mixture – not a uniform language type. In: Ramat, Anna Giacalone et al. (Hg.): Papers from the 7th International Conference on Historical Linguistics. Amsterdam: Benjamins, 591–606.

Frequenz

  • sms4science
  • Ruoff, Arno (1981): Häufigkeitswörterbuch gesprochener Sprache: Gesondert nach Wortarten alphabetisch, rückläufig-alphabetisch und nach Häufigkeit geordnet. Tübingen: Niemeyer.
  • Fenk-Oczlon, Gertraud (1991): Frequenz und Kognition – Frequenz und Markiertheit. In: Folia Linguistica 25, 361–394.
  • Bybee, Joan L. (2007): Frequency of use and the organization of language. New York: Oxford University Press.
  • Ronneberger-Sibold, Elke (1988): Entstehung von Suppletion und Natürliche Morphologie. In: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung [ZPSK] 41, 453–462.

Kurzverben

  • Nübling, Damaris (1995a): Die Kurzverben im Schweizerdeutschen: In der Kürze liegt die Würze oder im Spannungsfeld zwischen Reduktion und Differenzierung. In: Löffler, Heinrich et al. (Hg): Alemannische Dialektforschung: Bilanz und Perspektiven: Beiträge zur 11. Arbeitstagung Alemannischer Dialektologen. Tübingen/Basel: Francke, 165–179.
  • Nübling, Damaris (1995b): Kurzverben in germanischen Sprachen: unterschiedliche Wege – gleiche Ziele. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 62, 127–154.
  • Nübling 2000 (s.o.)
  • Dammel, Antje (2009): How – and Why – Do Inflectional Classes Arise? A Case Study on Swedish and Norwegian Conjugation. In: Montermini, Fabio et al. (Hg.): Selected Proceedings of the 6th Décembrettes: Morphology in Bordeaux. Somerville, Mass.: Cascadilla Press, 12–21.

Umlaut und Nichtumlaut im Plural der Kurzverben (Dialektologie)

  • Saxer, Alfred (1952): Das Vordringen der umlautenden Plurale bei den Kurzverben (gehen, haben, kommen, lassen, müssen, schlagen, stehen, tun) in der Nordostschweiz. Zürich: Juris.
  • als Beispiel einer Dialektgrammatik: Marti, Werner (1985): Berndeutsch-Grammatik für die heutige Mundart zwischen Thun und Jura. Francke, Bern.
  • Hotzenköcherle, Rudolf (1984): Die Sprachlandschaften der deutschen Schweiz. (Reihe Sprachlandschaft, Band 1). Aarau: Sauerländer.
  • SDS = Sprachatlas der deutschen Schweiz (1962–1997). Begründet von Baumgartner, Heinrich und Hotzenköcherle, Rudolf; in Zusammenarbeit mit Konrad Lobeck; Robert Schläpfer; Rudolf Trüb; unter der Mitwirkung von Paul Zinsli. Herausgegeben von Rudolf Hotzenköcherle, fortgeführt und abgeschlossen von Robert Schläpfer; Rudolf Trüb; Paul Zinsli. Bern/Basel: Francke.

Konjunktiv I

  • Lötscher, Andreas (2010): Luzernerdeutsch „möig“ – ‚er müsse‘: Irregularität und System bei schweizerdeutschen Kurzverben. In: Christen, Helen et al. (Hg.): Alemannische Dialektologie: Wege in die Zukunft. Stuttgart: Franz Steiner, 115–131.

Konjunktiv II

  • Nübling, Damaris (1997): Der alemannische Konjunktiv II zwischen Morphologie und Syntax: Zur Neuordnung des Konjunktivsystems nach dem Präteritumschwund. In: Ruoff, Arno und Löffelad, Peter (Hg): Syntax und Stilistik der Alltagssprache: Beiträge der 12. Arbeitstagung zur alemannischen Dialektologie, 25. bis 29. September in Ellwangen, Jagst. Tübingen: Niemeyer, 107–121.
  • Christen, Helen (1999): Wo chiemte mer hi: Zum überleben eines sprachhistorischen Fossils. In: Schindler, W. und Untermann, J. (Hg.): Grippe, Kamm und Eulenspiegel. Festschrift für Elmar Seebold zum 65. Geburtstag. Berlin: De Gruyter, 55–75.

„Verbverdopplung“ (gömmer go luege)

  • Lötscher, Andreas (1993): Zur Genese der Verbverdopplung bei gaa, choo, laa, aafaa („gehen“, „kommen“, „lassen“, „anfangen“) im Schweizerdeutschen. In: Abraham, Werner und Bayer, Josef (Hg.): Dialektsyntax. Opladen: Westdeutscher Verlag, 180–200.

4 Comments

  1. Elisabeth Leutert

    i freu mi gwaltig, Respekt !

  2. Daniela Beyeler

    Meischt offline aber INteressiert und tief berührt, dass so öppis mögli isch? – Kim macht’s mögli und ersch no mit Humor und Fingerspitzegfühl! Chapeau!

  3. Elena

    Danke für die wunderbari, wüsseschaftlichi und doch unterhaltsami Übersetzig vo dinere Masterarbeit! Du hesch es bewise: Churzverbe chönd spannend sii! 🙂

  4. Kim

    Danke euch! 🙂

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