Wäre der Baum auf dem Foto oben das Wort für ‚drei‘, wären die dicken Äste hethitisch teri, lateinisch trēs, germanisch *þrejez und so weiter, die alle von der idg. Wurzel *trei̯es abstammen. Das Germanische verzweigt sich u.a. in gotisch þreis, englisch three, schwedisch tre und unser drei, dieses wiederum in die schweizerdeutschen Varianten drü, dri, …
Wir bedienen uns gern bei sichtbaren Dingen, um sie als Bilder auf Abstraktes wie Wörter oder Sprachen zu übertragen (gr. μετα-φέρω meta-phérō ‚hinüber-tragen‘). Bei historisch Gewachsenem liegen Bäume nahe. Die Stammbaumtheorie war im 19. Jahrhundert ein Meilenstein für die historische Linguistik. Sie brachte durch die Übertragung des naturwissenschaftlichen Konzepts der Evolution einen methodischen Schub, ging allerdings so weit, Sprachen mit Lebewesen auf eine Ebene zu stellen.
Die moderne historische Linguistik versteht Sprache als Teil der menschlichen Kultur, als ein Werkzeug, das wir kollektiv formen, nicht als Organismus. Das Ziel historischer LinguistInnen ist übrigens auch nicht, richtig und falsch festzusetzen (präskriptiv), sondern Sprachen beim Wachsen (wissenschaftlicher: beim Sprachwandel) zuzuschauen und versuchen, die Vorgänge zu schematisieren (deskriptiv).
Also: Sprachen sind keine Bäume und demnach auch Wörter nicht. Beide haben Wurzeln, Stämme und verzweigen sich, aber Sprache hängt an den Menschen.