Gedanken zur Schaffhauser Mundart – Sprachwandel, Dialektverflachung, Variation

Zur Zeit beschäftige ich mich mit Schweizer Dialekten und im Zuge dessen am Rande auch mit meinem eigenen Dialekt. Ausgehend davon ein paar Beobachtungen.

Ich bin im Kanton Schaffhausen aufgewachsen und meine Eltern auch. Natürlich bin ich nicht das Mass der Dinge in Sachen Mundart von Schaffhausen, doch der Vergleich älterer Beschreibungen mit der Sprache, die ich spreche (Stadtmundart mit weiteren Einflüssen), bringt schon, ohne weit in die Tiefe zu gehen, einige Erkenntnisse. Der Kanton Schaffhausen ist ein Zipfel im Nordosten der Schweiz und grenzt an Deutschland. Das Schaffhauserdeutsch gehört zum Hochalemannischen.

Heinrich Stickelberger hat 1881, also vor 130 Jahren, eine Diss zur Mundart der Stadt (!) Schaffhausen veröffentlicht. Auf S. 3-4 listet er Merkmale der Stadtschaffhauser Mundart auf (erste 9 Punkte; letzte drei nicht auf der Liste):

  1. ên, ôn > ii, uu: nii, knuu, schtuu, guu, luu ’nehmen, genommen, stehen, gehen, lassen‘
  2. mittelhochdeutsches (mhd.) ei > aa: Flaasch und Baa und Faasses draa ‚Fleisch und Bein und Feisses dran‘
  3. Standarddeutsch -ung entspreche -ing
  4. [æ] gebe es nicht, dies sei zu [ɛ:] geworden
  5. -n sei geschwunden
  6. o sei offen vor Nasalen, meist auch vor r: Bòmm, Chròòne, bòre, Tòòr ‚Baum, Krone, bohren, Tor‘
  7. Diminuitive auf -ìlì: Fögili, Büsili ‚Vöglein, Kätzchen‘
  8. Dativ des Infinitiv erhalten: z findid, z machid, z tüend, z sind ‚zu finden, zu machen, zu tun, zu sein‘
  9. nünt, numme, oo ’nichts, nicht mehr, auch‘
  10. Ausserdem setzt er den gespannten Vokalen i, u, ü ungespannte Laute gegenüber. Er impliziert, dass dieser Unterschied phonemisch ist, sagt das aber nicht explizit. Er vermerkt dazu (Stickelberger 1881: 51), dass „die Wenigsten für den Unterschied von i, u, ü und [den abgetönten Varianten] ein Ohr haben“ (was für mich etwas nach „ich höre es, weil ich erwarte, dass ich es höre“ klingt).
  11. Die Aussprache von /r/ ist nach Stickelberger (1881: 15) normalerweise Zungenspitzen-r [r], „individuell“ sei auch uvulares [ʁ] „häufig“, doch würden „ganze Gemeinden […] wegen des gutturalen r verspottet“.
  12. Stickelberger (1881: VI) zählt die Diphthonge /ou, øy, ei, o:u, ø:y/ auf (wobei er in Klammern geöffnete Varianten angibt), dazu die „unechten Diphthonge“ /iə, uə, yə/.

Aus heutiger und persönlicher Sicht kann ich dazu sagen:

  1. Solche Formen kommen mir fremd vor. Das Schaffhauser Mundartwörterbuch (ShMwb) bezeichnet sie als „Relikte“ (S. 24)
  2. Ich kenne wenige Leute, die /a:/ statt /ai/ sagen. Für mich hatte das immer etwas Archaisches. Es gibt diesen Spruch, D Zaane d Laatere durabschlaapfe ‚Die Zaine die Leiter hinuntertragen‘, den ich als Kind eher als Spottvers auffasste. Wanner (1939: 41) verzeichnet in seinem Werk „Die Mundarten des Kantons Schaffhausen“ schon ein starkes Vordringen des Diphthongs, der damals allerdings im grössten Teil des Kantons noch /ɛi/ lautete.
  3. Ziiting und Orning sage ich nur zum Scherz. Aber Schulkollegen aus Dörfern fern der Stadt sagten solche Dinge. Noch einigermassen lebendig. Aber die meisten haben sich nach meiner Einschätzung auf allgemein schweizerdeutsches Ziitig und Ornig verlegt.
  4. Das ist weiterhin so.
  5. Auch hier keine Veränderung.
  6. Ich sage Baum, Chróóne, bòre, Tóór, wobei ich mir Tòòr noch vorstellen kann zu sagen, Bòmm und Chròòne nicht. Die klingen in meinen Ohren betont konservativ.
  7. Die Diminuitive sind bei mir abgetönt, also Büseli und Vögeli. Das -ili ist mir noch in den Ohren, aber ich glaube nicht, dass es überlebt.
  8. Ich habe schon solche Formen gehört und mich mit Kollegen darüber lustig gemacht. Ausser im Scherz würde ich sie niemals aktiv brauchen. Das ShMwb stellt fest, der Dativ des Infinitivs sei „in der älteren Mundart lebendig“ (S. 41).
  9. In meinem Idiolekt heisst das nüüt, nümme, au. Oo kommt mir sehr fremd vor, numme höre ich ab und zu und nünt sage ich vielleicht auch einmal, z.B. wenn ich sehr deutlich sprechen will.
  10. Dies hat mich überrascht, da ich hier keinen Unterschied empfinde. Auch das ShMwb (S. 32f.) meint, es gebe „kaum“ einen Unterschied in der Vokalqualität (wie im Standarddeutschen). Wanner (1939: 8) bezeichnet den Unterschied nicht, weil er „gering und unbestimmt“ sei.
  11. Ich kenne niemanden, der das /r/ vorne spricht. Ich dachte immer, das hintere, gegen Vokal tendierende /r/ [ʁ? ɣ?] (im Auslaut meines Erachtens [-ɔ]) sei typisch für Schaffhausen (und die Ostschweiz). In der Tat scheint schon ein bis zwei Generationen später das Zungenspitzen-r auf dem Rückzug zu sein: „[Zäpfchen-r] scheint umsich [sic] zu greifen. In Ra[msen] und Scha[ffhausen] herrscht es vor, in Schl[eitheim] auch.“ (Wanner 1939: 10). Das ShMwb stellt lapidar fest: „In der Schaffhauser Mundart ist das Zäpfchen-r verbreiteter als das Zungen-r.“ (S. 34). vgl. dazu auch den ausführlichen Artikel zur Aussprache des r
  12. Die „unechten“ Diphthonge (mit Schwa als zweitem Glied) sind auf jeden Fall erhalten. Dass diese nicht monophthongiert sind, ist meines Wissens eines der verbindenden Merkmale des Schweizerdeutschen gegenüber der hochdeutschen Standardsprache. In meinem Idiolekt hingegen ist /ou/ zu /au/ geworden, /ei/ wie /a:/ (siehe oben) zu /ai/, /øy/ zu /ɔi/ – dies alles scheint eine Anpassung ans Hochdeutsche zu sein. Die lange Diphthonge haben sich allerdings als /a:u, ɔ:i/ erhalten (/lau/ vs. /bla:u/). Auch /ai/ hat einen entsprechenden Langdiphthong /a:i/, wie in ma:ijə ‚mähen‘ den Stickelberger allerdings anders analysiert (mit „reduziertem i“) – bei Wanner (1939) entspricht er /ɛ:i/: mɛ:ijə (S. 35).

Fazit: 8½ (7 ganz, 3 teilweise) von 12 Merkmalen, die vor 130 Jahren typisch für den Dialekt der Stadt Schaffhausen waren, kommen mir fremd oder archaisch vor. Weiterhin „aktuell“ (immer verglichen mit meinem Idiolekt) sind systematische Lautwandel und einzelne Formen. Davon ausgehend drei Gedankengänge.

Verflachung des Dialekts

Der Gedanke liegt beim Betrachten der obigen Liste nahe. Ecken und Kanten des Dialekts werden abgeschliffen, es findet eine Anpassung an die Umgebung statt, hervorstechende Merkmale werden zugunsten weiter verbreiteter Formen aufgegeben. Ich kann nur noch einmal feststellen, womit dies zu tun hat: Früher gab es viel weniger Einflüsse von aussen (Stichworte Migration und Massenmedien). Es sind die Lebensumstände, welche die Sprache formen. Sprachwandel halt.

Mir scheint, dass sich der Schaffhauser Dialekt neben der hochdeutschen Standardsprache vor allem an den anderen Ostschweizer Dialekten orientiert hat. Dies mit dem Vorbehalt, dass dies meine persönliche Einschätzung ist, da ich nicht weiss, welche Merkmale seit jeher „ostschweizerisch“ sind. Ich vermute, es gibt eine Verbandelung der Dialekte von Schaffhausen, Thurgau und St. Gallen (was z.B. die Ostschweizerische Vokalspaltung nahelegt, die grob die Dialekte dieser Kantone gemeinsam haben). Das hiesse, man hat sich v.a. ähnlichen Dialekten angepasst, grenzt sich hingegen jedoch weiterhin bewusst von anderen ab (Zürichdeutsch, Schwäbisch).

Die Tendenz zur Verflachung ist, denke ich, nicht umstritten. Aber es wäre ein falsches Bild, würde man behaupten, dass die Schweizer Mundarten bald zu einem einzigen grossen Brei verschwimmen werden. Denn in Abgrenzung zu anderen beharren wir auf Unterschieden wie dem schaffhauserischen nid (’nicht‘) oder auf unserm a, das nach der Überzeugung der SchaffhauserInnen nicht so hell ist wie das in St. Gallen und nicht so dunkel wie das in Zürich.

Das Schaffhauser Mundartwörterbuch stellt ebenfalls eine „Tendenz zur Uniformierung“ fest und meint einen Absatz weiter unten: „Dialektgrenzen erhalten sich dennoch erstaunlich zäh, zwar sinkt die Kenntnis von Details, nicht aber das Bewusstsein für Mundartgrenzen. Die feinen Unterschiede zwischen den Dialekten erhalten sich selbst dann noch, wenn vermeintlich niemand mehr «richtigen» Dialekt spricht.“ (S. 26)

Geschwindigkeit des Sprachwandels

Einhergehend mit der „Tendenz zur Uniformierung“ wird eine „Beschleunigung des Sprachwandels“ ab Mitte des 20. Jahrhunderts attestiert (ShMwb S. 26). Hier kann ich ebenfalls nicken und einhaken: Ich hätte nicht gedacht, dass so viele Merkmale eines (nicht in der Ausrottung begriffenen) Dialektes sich in wenigen Generationen ändern – in diesem Falle: sich überregionaler Formen annähern oder angleichen.

Verwundert bin ich weiterhin über den Zusammenfall der offenen und geschlossenen i, u, ü. Wenn diese wirklich phonemisch gewesen sind, hat das Vokalsystem sich innerhalb von etwas mehr als einem halben Jahrhundert nicht unwesentlich vereinfacht, was ich durchaus bemerkenswert finde.

Variation

Wieder einmal mit der Nase gestossen wurde ich auf die Erkenntnis, dass Sprache nicht so fixiert ist, wie wir meinen – es gibt oftmals eine gewisse Variation, gerade im lexikalischen Bereich, aber auch bei der Formenbildung oder dem Lautsystem. Mehrere Wörter oder Formen konkurrieren sich, vielleicht setzt sich eines durch oder sie bestehen längere Zeit nebeneinander. In einem nicht durch Schriftkonventionen standardisierten Dialekt ist dies noch stärker der Fall als etwa im Standarddeutschen.

Dies stellt auch Wanner (1939) fest: „Die Einheit im Ganzen duldet Mannigfaltigkeit im Einzelnen.“ (S. 2)

So gibt es numme und nümm(e), Bòmm und Baum, Ziitig und Ziiting, Laatere und Laitere oder Gaaferi, Gäiferi, Gäuferi und Gòòferi (‚Geiferer‘, ShMwb S. 158). Konjunktiv-Formen sind besonders ergiebig; So heisst ich niem, neem, nääm, näämti (ShMwb S. 43) alles ‚ich nähme‘. Auch sonst ist bei Verbformen eine flexible Handhabung festzustellen: Ich will kann wiedergegeben werden als ich wett, ich wött, ich wott und gerade noch zulässig ist standarddeutsches ich will. Wanner (1939) gibt gleich sechs (örtlich klar verteilte) Varianten für Bremse (die Insekte): Bräme, Breeme, Breme, Brääme, Brööme, [brœ:mə] (S. 4).

Diese Variation, der man schon im Kleinen Gebiet eines Kantons begegnet, ist im grossen Massstab das alltägliche Brot in der Schweiz: Eine sagt so, der andere so, und meistens versteht man sich.

Literatur

  • Stickelberger, Heinrich: Lautlehre der lebenden Mundart der Stadt Schaffhausen. Aarau: Sauerländer 1881.
  • Wanner, Georg: Die Mundarten des Kantons Schaffhausen Hg. von Hans Wanner. Schaffhausen: 1939-1941.
  • Schaffhauser Mundartwörterbuch. Begründet von Alfred Richli; erarbeitet von Heinz Gallmann [et al.]. Schaffhausen: Meier 2003.

One Comment

  1. Leon

    „Ich kenne wenige Leute, die /a:/ statt /ai/ sagen. Für mich hatte das immer etwas Archaisches. “

    Dann offenbar nicht die Richtigen :D.

    Schlaate und nicht Schlaithaim, sagen etwa 70% der Schaffhauser und etwa 90% der Leute aus dem Chläggi.

    Waasch und nicht waisch. sagen genau so viele und ich könnte da jetzt noch viele Worte aufzählen, welche anstelle von ai ein doppeltes a haben, wenn sie von einem Schaffhauser ausgesprochen wird, besonders von den Randen- und Chläggibewohnern.

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