Unpersönlich in erster, zweiter, dritter und vierter Person

Es gibt ziemlich viele Möglichkeiten, Situationen und Empfindungen zu beschreiben, die wir alle kennen. Das dreigliedrige Personalpronomensystem des Deutschen ist wohl gar keine schlechte Basis, auch wenn es auf den ersten Blick sehr strikt erscheint: hier bei mir (ich; wir), mir gegenüber (du; ihr), sonst irgendwo (er/sie/es; sie). Wie es ganz anders geht, zeigt zum Beispiel das Finnische, aber dazu erst am Schluss.

Da gibt es zum Beispiel noch die Indefinitpronomina. Heute las ich einen Artikel, in dem durchgehend man verwendet wird. Ein Auszug (zugegeben, das Thema ist eher banal, tut hier aber eh nichts zur Sache):

Man trinkt in Lützelflüh zwei Kaffee [….] – man hat eine volle Blase. Doch oh weh! Schon beim Einsteigen sieht man das Schild an der Tür: WC gesperrt. [….] Später stellt man der Medienstelle der SBB ein paar Fragen. [….] Man staunt [über die aufschlussreiche Antwort]. Als Nörgelkunde denkt man allerdings: […]
(Tages-Anzeiger 17.10.11)

Die Verwendung des Pronomens man hat einen besonderen Effekt zur Folge. Die Leserin oder der Leser weiss, dass die Begebenheit dem Journalisten widerfahren ist, auch wenn er nicht in der 1. Person, als ich berichtet. Warum also spricht er von sich in der 3. Person? Man ist ein Indefinitpronomen, bezeichnet also unbestimmte Personen. Dies legt nahe, dass das Geschilderte jeder und jedem zustossen könnte – es wird impliziert, dass es eine Erfahrung ist, die vielen BahnfahrerInnen bekannt ist.

Bemerkenswert ist, dass im Deutschen ähnliche Effekte mit den Pronomen der 1. und 2. Person Singular erzielt werden können:

Nimm die Finger von dem Mädchen, verlass endlich die Bar
Draussen scheint die Sonne, die Nacht ist nicht mehr da
Du hast zuviel geredet, fühlst dich etwas falsch
Das einzige was bleibt läuft dir bitter durch den Hals
Und dann schlägt dein Herz
(Olli Schulz & Der Hund Marie: Dann schlägt dein Herz)

Olli Schulz besingt seine Gefühle in einer bestimmten Situation. Er richtet dies jedoch direkt an den Hörer bzw. die Hörerin, indem er die 2. Person benutzt. Er hätte auch singen können: Ich habe zuviel geredet und so weiter. Doch es scheint, als habe er die Universalität dieses Gefühls betonen wollen: Das kennen wir doch alle, wenn es einem so geht, dass … – Dafür würde sich natürlich auch das Indefitivpronomen eignen, man fühlt sich etwas falsch, doch die ist in manchen Fällen, namentlich wenn sie nicht als Subjekt fungiert, unelegant: Und dann schlägt das Herz von einem – und darüber hinaus kann man die 2. Person auch mit dem Imperativ adressieren und hat damit eine Variationsmöglichkeit: Nimm die Finger von dem Mädchen!

Dass du in manchen Fällen man entspricht, dürfte Sprachinteressierten schon vorher bekannt gewesen sein. Noch einen Schritt weiter geht die Verwendung der 1. Person, oft als „lyrisches Ich“, wofür ich auf das Beispiel in der Wikipedia verweise, zu dem erläutert wird: „Das Lyrische Ich ist hier eine fiktive Figur […]“ – Die 1. Person Singular steht also für eine nicht genau bestimmte Person, genau wie man oder du oben.

Auch wir, die 1. Person des Plurals, kann in solchem Sinne verwendet werden: Das lyrische Ich kann auch als wir auftreten, aber auch gewisse man-Sätze können durch wir-Sätze ersetzt werden: Diesem Phänomen begegnen wir … (vgl. nächsten Abschnitt), was eine den Leser oder die Hörerin miteinbeziehende Form für Diesem Phänomen begegnet man … ist.

Und dann wäre da natürlich noch das Passiv, neben man die erste Wahl bei Texten, die objektiv (also unpersönlich) sein müssen (oder erscheinen sollen): Daraus wird ersichtlich, dass …

Ebenso stehen weitere Indefinitpronomen zu Verfügung: jemand, eine, einer, alle, jeder, jede etc.

Die „kreative“ Verwendung unbestimmter Formen erlaubt Umschreibungen und Ersetzung, die Abwechslung in einen Text bringen, aber auch jeweils einen eigenen Beigeschmack haben: „aggressives“ du, Objektivität implizierendes Passiv, pathetisches wir, egozentrisches/persönliches ich und so weiter. Einem elaborierteren Variieren der Personalformen begegnen wir bei Kettcar. Hier wird gemischt, was das Zeug hält (Ähnliches liesse sich sicherlich auch in Gedichten finden; ich hab’s mehr mit der Musik):

Das was du aussuchst
Wir tauschen Zeit für Geld und hoffen
[…]
Ich wüsste wie es wirklich war
Egal ist gleich vorbei
Welcher Teil jetzt wirklich stimmt
Ich war ja auch dabei
Lächeln und still
Am Ende steht immer die Null
und was wir dafür halten
(Kettcar: Nullsummenspiel)

Der Text legt sich nicht auf eine Bezeichnung der Person fest, welche die besungenen Situationen durchlebt: Du suchst dir etwas aus, wir tauschen, ich wüsste. Es könnte auch heissen: Das was man aussucht / Man tauscht Zeit für Geld […] oder Du weisst wie es wirklich war […] Du warst ja auch dabei – Der Inhalt würde sich nur geringfügig ändern (worüber man sich natürlich streiten kann). Meine Interpretation ist die folgende: Dass durch die bewusste Vermischung der Personalformen ebenjene unwichtig werden, deutet darauf, dass ein Anspruch besteht, Gefühle und Gedanken, die viele kennen, zu artikulieren – es geht nicht um jemand Bestimmtes, jedeR könnte so fühlen. Die Auflösung der eigentlichen Bedeutung der Pronomina unterstreicht das.

Andere Sprachen

Im Englischen behilft man sich in Ermanglung eines man mit you: You can’t do that! oder mit they: They say that … (‚Man sagt, dass …‘).

Im Französischen wird das Indefinitpronomen on (‚man‘) oft für die 1. Person Plural eingesetzt: On va au ciné? (‚Gehen wir ins Kino?‘) – dies ist das umgekehrte Phänomen des wir bei Kettcar, das für irgendjemand stehet.

Im Spanischen (und soweit ich weiss, auch im Italienischen) gibt es eine Reflexivkonstruktion, die etwa dem deutschen man oder Passiv entspricht: No se puede vivir sin aire. (‚Man kann nicht leben ohne Luft.‘, wörtlich ‚Es kann sich nicht leben ohne Luft.‘), se vende (‚zu verkaufen‘), Se dice que … (‚Es wird gesagt, dass …‘).

Das finnische „Passiv“ ist eine weitere Variante, Handlungen ohne bestimmtes Subjekt auszudrücken. Es wird auch „4. Person“ genannt, da es eine Handlung beschreibt, die von einer nicht definierten Person durchgeführt wird („irgendjemand macht etwas“): Kirja luetaan. (‚Das Buch wird gelesen‘)

2 Kommentare

  1. naved

    Zitat: „… dass die Begebenheit dem Journalisten wiederfahren ist“. Es muss „widerfahren“ heißen.

  2. Kim

    Danke für den Hinweis, über so aufmerksame Leser freut man sich natürlich 🙂

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert