Vorwörtchen: Dies ist keine „Dialekt vs. Hochsprache“-Debatte. Ich störe mich daran, wie Herr Rothenbühler Dialekte als niedere Sprachen darstellt. Wenn nichts besser als das andere ist, heisst das aber auch, dass Dialekte nicht besser als Standarddeutsch sind.
Peter Rothenbühler ist Kolumnist. Weil er in Biel zweisprachig aufgewachsen ist, fühlt er sich offensichtlich als Sprachexperte. In der NZZaS vom 18.4.10 diagnostiziert er den Deutschschweizern, sie würden „langsam zum Volk ohne Sprache“, da sie Dialekte sprächen, die „sprachlich verwildert sind“. Die Dialekte seien „ein fehlerhaftes Mischmasch“ (interessant, dass sich trotzdem alle verstehen, obwohl sie „fehlerhaft“ sprechen).
Das sagt schon mal einiges über die Wahrnehmung von Sprachen von Herrn Rothenbühler: Es gibt gute Sprachen und schlechte, richtige und falsche. So weit so falsch.
Als Beleg dafür werden Soziolekte angeführt wie „Zürialbanisch“ (so seine Bezeichnung), das – oh nein, wie schlimm! – mit der Intonation spielt, oder die SMS-Sprache. Das ist wie wenn man in ein Londoner Pub gehen würde, wo garantiert nur Alteingesessene verkehren, und sich dann beklagt, dass man an diesem Ort Cockney und nicht Received Pronunciation spricht. Man kommuniziert nun mal je nach Situation verschieden, der Begriff dafür heisst „Varietäten“.
Dann der Vergleich mit Deutschland und Frankreich: dort würden Dialekte „als Privatsache betrachtet, als Intim- oder Babysprache für den familiären Bereich“. Es stimmt, dass Dialekte in verschiedenen Sprachräumen unterschiedlich viel Prestige gegenüber der Standardsprache geniessen, und es trifft auch zu, dass die französische und deutsche Standardsprache viel mehr Prestige als die französischen und deutschen Dialekte hat.
Doch natürlich will Herr Rothenbühler damit Wasser auf seine Mühlen lenken: Das Schweizer Fernsehen trage zum „sprachlichen Reduitdenken“ bei, fährt er fort, indem es viele Sendungen, auch Informationssendungen, auf Schweizerdeutsch ausstrahle. Damit spricht er implizit an, worum es geht: um Identität. Aber statt zu erörtern, warum Mundart in der Deutschschweiz ein hohes Prestige geniesst, versucht Herr Rothenbühler, dem Dialekt seinen Status abzusprechen.
Aufgefüllt wird der Cocktail mit einem Schuss der ewigen Leier, dass niemand in der Schweiz richtiges Standarddeutsch könne, notabene folgend auf die Feststellung, dass das Hochdeutsch, welches in der Schule gelernt werde, nie mehr angewendet werde. Macht’s da nicht Klick? Viele brauchen in ihrem Leben einfach kein Hochdeutsch. So wie die Dänen in ihrem eigenen Land nicht englisch sprechen müssen. Nur eine Minderheit muss regelmässig international kommunizieren. Vielleicht sollte man das in die Beurteilung des Soll-Status vom Hochdeutschen mit einfliessen lassen. Dass Standarddeutsch die allgemeine Verständigung vereinfacht, ist jedoch nicht abzustreiten. Und hier breche ich ab, denn gleich wird’s komplex.
Genialer Schlusssatz! 🙂
Naja, eher geschickt (bis billig) aus der Affäre gezogen 😉 Die ganze Sprachpolitik-, Bildungs- und Identitätspolitik hat ja nichts mehr direkt mit Linguistik zu tun.
Aber die Frage nach der Identitätsstiftung durch Sprache ist interessant. Man kann nämlich problemlos SOWOHL eine „lokale“ (dialektale) Identität haben WIE AUCH eine weitergehende (sei das als Schweizer, als Deutsch-Muttersprachler, als Europäer, als Westler oder, nach Ludwig Zamenhofs Ideal, als Teil der gesamten „Menschenfamilie“)
Gerade im Zusammenhang mit Lokalpatriotismus (FCB-Anhängerschaft lässt grüssen…) und Nationalstolz (erkennbar z.B. an der Wahrnehmung der Rolle der Schweiz im 2. Weltkrieg oder an der täglich vor Mitternacht auf Radio DRS gesendeten Nationalhymne) wird offensichtlich: Das eine schliesst das andere nicht aus.
Das wurde mir erstmals richtig klar, als ich das bei Zamenhof (oder einem in seiner Tradition stehenden Autoren) gelesen habe, denn bei den Überlegungen zu Esperanto kommt dem Zusammenhang zwischen Sprache und Identität natürlich eine grosse Bedeutung zu.
Ob nun das (wohl agglutinierende, aber doch sehr europäisch geprägte) Esperanto tatsächlich zur Stiftung einer globalen „Menschheits-Identität“ fähig wäre, bezweifle ich, wohingegen diese Sprache als Hauptarbeitssprache in der EU geradezu prädestiniert zu sein scheint.
In der Hoffnung, dass die Menscheit, ob mit oder ohne Esperanto, kapiert, dass sie (zumindest grösstenteils;) aus Menschen besteht und nicht aus „Freund“ und „Feind“ grüsst aus Basel
Sandro
Dass man auch über Identität spricht, wenn man über Dialekte spricht, liegt auf der Hand. Man könnte sogar sagen, Sprachpolitik-Diskussionen sind eine Stellvertreterdiskussion, gerade in der Schweiz. Ich wollte einfach nicht noch ein Fass aufmachen, da es in diesem Blog ja primär um die Sprache als solches gehen soll.
Ich bin derselben Ansicht, was Identitäten und Esperanto betrifft – die Frage ist halt, wie man das grosse Ganze (die Identität als Weltbürger) mit der lokalen Verankerung zusammenbringt. Und da glaube ich eigentlich, dass die Schweiz in Sachen Sprachen vieles richtig macht. Mehrsprachigkeit ist Teil der Schweizer Selbstverständnisses und das öffnet Horizonte und stärkt gleichzeitig die Identität.
Wenn die Welschen merken, dass die Deuschschweizer ein gespanntes Verhältnis zum Hochdeutsch haben, sind sie verärgert, weil sie meinen, „für uns“ Hochdeutsch zu lernen. Aber Hochdeutsch hat nun mal eine Sonderrolle (bzw. „Identitäts-Implikationen“), was man daran merkt, dass dann alle gleich extrem sensibel (bis populistisch) werden. Natürlich wäre ein entspannteres Verhältnis wünschenswert, aber so sind nun mal die momentanen Animositäten. Da nützt es auch nichts, wenn einer daherkommt und die Hochdeutschkompetenz der Schweizer runtermacht. Man müsste vermitteln, dass das Hochdeutsche keine Bedrohung für die Identität ist, sondern Teil eines positiven Selbstbewusstseins sein könnte, aber das ist dann eben nicht so einfach. Und darum wird es noch viele aufgeladene Debatten darüber geben…