Das Thema hat Hochkonjunktur: Überrollt Hochdeutsch die Schweiz? Flacht die Sprache ab? Standardsprache schon im Kindergarten? Ist Schweizerdeutsch in einem Jahrhundert Geschichte? – Es scheint, als stäche in ein Wespennest, wer über Deutsch, Hochdeutsch, Schweizerdeutsch und Standarddeutsch schreibe. Oft erhalten Artikel darüber etliche Zuschriften oder Kommentare.
Tradition gegen Kompetenz, Eigenheit gegen Anpassung, Borniertheit gegen Einbindung, Abschottung gegen Fortschritt – oder alles gleichzeitig. Die ach so vielsprachige Schweiz sucht ihren Weg, mit dem Hochdeutschen und der eigenen Sprachidentität umzugehen.
Zuerst einmal sollte man sich der Termini bewusst sein, mit denen alle um sich schmeissen:
- Hochdeutsch als linguistisch-geografische Bezeichnung steht im Gegensatz zu Niederdeutsch. Hochdeutsch wird im grössten Teil Deutschlands, in Österreich und in der Schweiz gesprochen, Niederdeutsch ist Plattdeutsch, gesprochen in Norddeutschland, das die 2. deutsche Lautverschiebung, auch „hochdeutsche Lautverschiebung“ genannt, nicht mitgemacht hat. Hochdeutsch kann man in Ober- und Mitteldeutsch unterteilen. Hochdeutsch bezeichnet in der Umgangssprache jedoch die Hochsprache, die mit höherem Prestige konnotiert ist.
- Der linguistische Terminus für die normierte deutsche Hochsprache ist Standarddeutsch, verkürzt Standard. Mehrere deutschsprachige Länder haben ihre eigenen Varianten des Standarddeutschen: Bundesdeutsches Hochdeutsch, Österreichisches Deutsch und Schweizer Hochdeutsch. Deutsch ist somit eine plurizentrische Sprache, was bedeutet, dass mehrere Standardvarietäten existieren. Das Schweizer Hochdeutsch ist nicht gleichzusetzen mit Schweizerdeutsch; es ist das Hochdeutsch, in dem Drucksachen (Zeitungen, Gesetze, etc.) in der Schweiz verfasst sind, und das in den Nachrichten gesprochen wird. Es hat gewisse lexikalisch Eigenheiten, Helvetismen genannt, die im Bundesdeutschen Hochdeutsch nicht oder anders verwendet werden, im Schweizer Hochdeutsch aber absolut korrekt sind (!), so zum Beispiel parkieren statt parken (mehr davon im TA-Artikel Deutsch vs. Deutsch: Paprika heisst Peperoni). Aber auch in der Grammatik gibt es kleinere Abweichungen (Artikel dazu bei der NZZ), ebenso in der Orthografie. Typisches Beispiel ist hier die Verwendung von ss statt ß. Von Deutschen und vermehrt auch von Schweizern werden solche Abweichungen insbesondere beim Lautstand (kein stimmhaftes s [z] in Rose) und beim Lexikon oft als „falsches Deutsch“ wahrgenommen. Dabei sollte man sich bewusst sein, dass auch ein Schwabe oder eine Sächsin, die oder der Bundesdeutsches Hochdeutsch spricht, gewisse dialektale Einschläge hat (ob das nun die Postulierung einer eigenen Varietät der Standardsprache rechtfertigt oder ob besser alle dieselbe Standardsprache lernen würden und eine solche Differenzierung nur ein irreführender „PR-Gag“ ist, sei dahingestellt).
- Schriftdeutsch ist eine schweizerische Bezeichnung für die [schweizerische] Standardsprache. Sie soll wie Hochdeutsch durch den Terminus Standarddeutsch ersetzt werden, da sie als wertend angeschaut wird (Schriftdeutsch impliziert, dass Standarddeutsch nur eine geschriebene Sprache ist).
Nach diesem Definitionsmarathon könnte man sich jetzt in eine Diskussion stürzen.
Ich will nur eine Feststellung loswerden, die aber mehrere andere tangiert. Well then.
Mich amüsiert die ganze Diskussion etwas. Denn wenn man das Ganze in einen grösseren Kontext stellt, fällt die Unverhältnismässigkeit ins Auge.
Sprachwandel findet statt. Ständig finden neue Lehnwörter Einzug in die Sprache. Zuerst geisselte man die Verwendung von Anglizismen im Hochdeutschen (also, ähm, Standarddeutschen), jetzt die Verwendung von deutschen Wörtern in der Mundart.
Gerade als Linguist, dem die Sprache die ganze Zeit davonrennt, kann ich das auch gut verstehen. Aber, wie gesagt: Sprache verändert sich fortlaufend. Schlussendlich ist es eine Frage der Menge, und die kritische Menge ist meiner Meinung nach noch lange nicht überschritten. Dann sagt Fritzli halt Striichhölzli statt Zündhölzli. Wir haben ja auch ein anderes Vokabular als unsere Grosseltern.
Wir Schweizer scheinen ein Problem mit dem Hochdeutschen zu haben – zwar brauchen wir es tagtäglich, schauen deutsches Fernsehen, lesen Bücher und Zeitung, hören Nachrichten – und doch: so ganz trauen wir der Sache nicht. Vielleicht planen die ja eine feindliche Übernahme. Die sind ja alle schon hier und rhetorisch viel gewandter. Panik. Populismus. Popliger Alpen-Nationalismus.
Auf pragmatischer Ebene muss festgestellt werden: Zweisprachigkeit ist für Kinder kein Problem, vorausgesetzt notabene eine angemessene Betreuung ist vorhanden. Optimalerweise werden „Standard“ und Schweizerdeutsch nicht vermischt, wenn sie nebeneinander verwendet werden. Dies kann Beispielsweise durch Fenster, also Sequenzen in der jeweils anderen Sprache, oder, allgemeiner gesagt, durch Kopplung an Themen oder Personen geschehen.
Untergehende Sprachen haben andere Geschichten: sie werden verboten oder von prestigereicheren Sprachen überrollt. Ich sehe weit und breit keinen politischen Zwang oder wirtschaftlichen Druck, nicht mehr Schweizerdeutsch zu sprechen – Dem Schweizerdeutsch geht es blendend. SMS werden auf Schweizerdeutsch geschrieben, ebenso kommunizieren der hippe junge Schweizer und die coole junge Schweizerin auf Facebook und wie sie alle heissen auf Schweizerdeutsch. Schweizerdeutsch hat kein Imageproblem.
Darum frage ich mich, was diese heftigen Reaktionen ausgelöst hat. Ich kann mich weder für noch gegen Hochdeutsch im Kindergarten bedenkenlos aussprechen. Die Befürworter versprechen eine Generation von hyperkompetenten, vorbehaltlosen Standardsprechern, die auch im Schweizerdeutsch zu Hause sind. Alles wird besser. Die Gegner hängen ihre Besorgnis an einzelnen Wörtern auf und an genauso gefühlten Wahrheiten wie die Befürworter. Denn es ist wie so oft wissenschaftlich nicht klar, was passieren wird in dieser spezifischen Situation.
Nicht von der Hand zu weisen ist jedoch, dass wir eng mit Deutschland verbandelt sind. Wie viel Hochdeutsch im Kindergarten das rechtfertigt, weiss ich nicht. Aber ich habe das starke Gefühl, dass viel Aufheben um nichts gemacht wird. Es geht um einen Prozentanteil Hochdeutsch im Kindergarten (ausgenommen Basel, die eine „Extremvariante“ mit 100% Hochdeutsch erprobten, was den Stein des Anstosses richtig ins Rollen gebracht hat) und alle beklagen den Verlust unserer Identität. In anderen Ländern gibt es viel stärkere Eingriffe: In Katalonien war Català 40 Jahre verboten und jetzt ist es wieder stark; Frankreich fasst seine Minderheitensprachen viel härter an; Afrika oder Papua-Neuguinea sind Schmelztiegel von Sprachen; Deutsch selbst ist das Produkt jahrhundertelangen Widerspiels germanischer Dialekte, später Latein oder Französisch und jetzt eben Englisch.
Und deshalb kommt mir die ganze Sache wie ein Sturm im Wasserglas vor.
- Hochdeutsch im Kindergarten: Befragung unter Kindergärtnerinnen und Hintergründe (TA 31.1.08), NZZ 17.3.08 zum gleichen Thema; Hochdeutsch für Kleinkinder (NZZ 16.4.08); Hochdeutsch in Basler Kindergärten (NZZ Online 11.12.08)
- Initiative Ja zu Mundart im Kindergarten (Zürich), Artikel dazu, TA 25.11.08
- Eine Andere Baustelle der Sprachenvielfalt (oder auch: auf Hochdeutsch sind wir allergisch, die Bündner Polyglossie finden wir toll): Die Bündner Leben ihre Dreisprachigkeit (interessant dabei ist u.a. die positive Beurteilung im Artikel, die im Kommentar von einem Spezialisten relativiert wird)
- Deutsche lernen Schweizerdeutsch: NZZ 24.3.08, 15.12.08
- Die Sache mit den ungeheuren Deutschen: „Deutsche schnappen uns die Frauen weg“, TA 26.11.08